Niedersachsen wurde nach dem Zweiten Weltkrieg nicht nur neben Bayern und Schleswig-Holstein Hauptaufnahmeland für Vertriebene und Flüchtlinge, sondern wies auch noch andere Merkmale auf, die ein „leichtes Nachhinken hinter der durchschnittlichen Wohlstandsentwicklung der anderen Bundesländer bewirkte, wobei es innerhalb Niedersachsens große regionale Unterschiede hinsichtlich der Wirtschaftskraft gab – und gibt.“ (- Axel Schildt) So hatte sich die Region in der Mitte Deutschlands zu einem westdeutschen Grenzgebiet mit den entsprechenden infrastrukturellen Veränderungen gewandelt.

Der Bevölkerungsanstieg nach dem Krieg von mehr als 2,3 Millionen Menschen auf nun 6.8 Millionen war das zentrale Problem der ersten Nachkriegsjahre. Das agrarische Hinterland, wo viele der Flüchtlinge zunächst untergebracht waren, bot zwar viel Raum, aber besonders nach der Währungsreform immer weniger Arbeit. Viele der Flüchtlinge, dıe nach ihrer Ankunft im Westen nicht mehr in ihren Berufen arbeiten konnten, und zunächst in der Landwirtschaft untergekommen waren, zogen in industrienahe Standorte weiter, die bessere Berufsperspektiven versprachen. Damit setzte sich der Trend der Land-Flucht weiter durch. Die Arbeitslosigkeit in Niedersachsen war Anfang der 50er Jahre noch 7 % höher als der Bundesdurchschnitt. Sie sank zwar durch den Korea-Boom in der folgenden Zeit ab, Ende 1957 lag die Arbeitslosigkeit hier aber immer noch bei 10,3 %, wobei sie auf dem Land deutlich höher war. Besonders die Flüchtlinge waren stark betroffen, nicht nur ein Indiz für die „verzögerte Integration der Flüchtlinge, die nicht nur in Niedersachsen mit hoher Arbeitslosigkeit und sozialer Deklassierung erkauft wurde.“ (Axel Schildt)

Die Bedeutung als landwirtschaftlich geprägte Region

Das Land Niedersachsen war nach wie vor mehr von der Landwirtschaft geprägt als andere Bundesländer. Waren im Jahr 1960 im Bundesdurchschnitt 14 % der Bevölkerung innerhalb der Landwirtschaft beschäftigt, so waren es hier 20 % Die große Bedeutung der Agrarwirtschaft wurde durch den Nachfragesog des Wirtschaftswunders noch bestärkt, was allerdings auch bewirkte, dass Niedersachsen von den Wachstumseffekten der Wirtschaftsentwicklung nicht so profitierte wie andere Bundesländer, da die „Wertschöpfung in der Landwirtschaft hinter der allgemeinen Entwicklung herhinkte.“

Die Bedeutung der Landwirtschaft galt auch im besonderen Maße für den Landkreis Uelzen. Die Kreisstadt Uelzen hatte im 19. Jahrhundert durch Veränderungen in der Landwirtschaft und dem Bau der Eisenbahn einen wirtschaftlichen Aufschwung erfahren, an dem auch nach dem Zweiten Weltkrieg wieder angeknüpft werden konnte.

Klaus-Dieter Vogt: „Die planmäßige und wohlgeleitete Bodenbewirtschaftung ın den letzten hundert Jahren hat die Landwirtschaft im Kreise Uelzen und im östlich angrenzenden Kreis Lüchow-Dannenberg auf eine so hohe Stufe gebracht, dass sie im Regierungsbezirk Lüneburg mit an der Spitze steht“, aber auch im bundesrepublikanischen Vergleich überdurchschnittliche Werte aufwies. Der Landhandel, der vor 1945 Beziehungen bis in die Altmark gehabt hatte, konzentrierte sich nach dem Krieg ganz auf Uelzen. Auch der Viehhandel blieb weiterhin schwerpunktmäßig ın Uelzen, die weiterhin die „landwirtschaftliche Hauptstadt des Regierungsbezirkes Lüneburg“ blieb. Industrieansiedlungen von größerer Bedeutung gab es in Uelzen nur solche, die in einer Verbindung zur Landwirtschaft standen. Dies waren vor allem die Zuckerfabrik, die Milchverwertung Osthannover, der Verbandschlachthof und Mühlenbetriebe. Dabei schien sich Uelzen ın den fünfziger Jahren zu einem modernen Provinzzentrum zu entwickeln. 1952 wurde beispielsweise die Molkerei Ostmilch als genossenschaftliches Unternehmen mit den Produktionsstandorten in Lüchow und Uelzen gegründet. Durch die Zonengrenze war vor allem die Molkerei in Lüchow in eine extreme Randlage geraten und hatte Großverbraucher aus der östlichen Region verloren. Wesentliches Ziel der ersten Zeit des zunächst aus 31 Molkereien bestehenden Unternehmens war, überschüssige Milch aus der Region aufzunehmen, kostengünstig zu verarbeiten und außerhalb der Region zu verkaufen. Hauptabnehmer wurde nun West-Berlin.

Starker Bevölkerungsanstieg im Kreis Uelzen

Im Kreis Uelzen war der Bevölkerungsanstieg nach dem Zweiten Weltkrieg extrem hoch, Der Bevölkerungsstand betrug im Jahr 1950 117.614 Einwohner und hatte sich damit seit 1939 nahezu verdoppelt. Davon waren 54.380 Personen Heimatvertriebene und Zugewanderte. Allerdings wanderten ım Laufe der folgenden Jahre viele Menschen weiter in den Westen, die Einwohnerzahl des Landkreises sank im Jahr 1959 erstmals wieder unter 100.000. Allerdings lebten 1961 noch 30.604 Flüchtlinge im Landkreis. Ende der fünfziger Jahre lebten auch bereits ausländische Gastarbeiter im Landkreis, ein Beweis dafür, dass auch hier Arbeitskräfte gesucht wurden. Wichtig für die wirtschaftliche Entwicklung der Stadt und des Kreises war u.a. der Zuwachs an Fachkräften aus dem Osten. Beispielsweise konnte sich in Uelzen eine Reparaturwerkstatt für landwirtschaftliche Maschinen zu einer Fabrik mit angegliedeter Handelsabteilung hocharbeiten, was vor allem durch Zuwanderung von Fachkräften aus Ostdeutschland möglich geworden war. Die Belegschaft konnte von 30 Mitarbeitern im Jahr 1952 auf 135 Beschäftigte im Jahr 1957 gesteigert werden.

Starke Nachfrage nach jungen Arbeitskräften aus dem Lager

Mit dem wirtschaftlichen Aufschwung der jungen Bundesrepublik wurde der Bedarf, gerade an jungen, Arbeitskräften immer größer. Der Anstieg der Bevölkerung, der in den ersten Notjahren das große Problem gewesen war, wurde nun zum unerlässlichen und deshalb begehrten Bestandteil des wachsenden Wohlstandes. So erhielt das Notaufnahmelager Uelzen bereits 1953 zunehmend Anfragen von Firmen, überwiegend aus Nordrhein-Westfalen, hinsichtlich der Vermittlung von Adressen. Die Lagerleitung lehnte dies mit dem Argument ab, dass man dazu personell nicht in der Lage sei, täglich circa 300 bis 400 Adressenfeststellungsnachfragen zu bearbeiten. Es sei darüber hinaus unsinnig, Arbeitsverträge mit Personen abzuschließen, deren zukünftiger Wohnsitz noch gar nicht feststünde. Für die Suche nach Arbeit stand ım Lager eine Niederlassung des Arbeitsamtes zur Verfügung. Sie sollte in ihrer Beratungstätigkeit auch gewissen Schutz für die Neuankömmlinge bieten, denn die illegale Arbeitsanwerbung war ein nicht unerhebliches Problem, gerade hinsichtlich der jungen und damit unerfahrenen Flüchtlinge aus der DDR. Die Lagerleitung versuchte zwar im Bereich ihrer Möglichkeiten dagegen vorzugehen. So wurde beispielsweise gegen einen Pferdehändler aus Gifhorn eine strafrechtliches Verfahren eingeleitet, der Jugendliche an Bauern vermittelt und dafür pro Vermittlung zwanzig Mark kassiert hatte. Dennoch stellte der Lagerleiter nüchtern fest, dass zwar Leute, die innerhalb des Lagers versuchen würden, schwarz Flüchtlinge anzuheuern, sofort des Lagers verwiesen würden, dass aber ansonsten die Schwarzvermittlung in Uelzens Gastwirtschaften blühe. So musste Brauner 1953 feststellen, dass „ein Einschreiten der Lagerleitung gegen Bauern, die auf Straßen in der Lagernähe ihre Fahrzeuge parken und sich dort mit Flüchtlingen, die aus dem Lager in die Stadt gehen oder von dort zurückkommen, unterhalten, nicht durchführbar ist.

Außerdem war das Bohldammlager selbst ein großer Arbeitgeber und ein nicht unbedeusender Auftraggeber für den örtlichen Handel und das Handwerk, da im Lager schließlich äglich viele Menschen untergebracht und versorgt werden mussten. Für die Versorgung war ein nicht unerheblicher organisatorischer Aufwand von Nöten. Innerhalb des Lagers verfügte man im Laufe der Zeit über einen Mitarbeiterstab von Angestellten, die für die Verwaltung wie für die Versorgung der Zuwanderer verantwortlich waren, weitere waren für die laufenden Instandsetzungsund Reparaturarbeiten des Lagergeländes mit seinen vielen Gebäuden notwendig. Zeitweise arbeiteten über 460 Menschen im Notaufnahmelaoer. Darüber hinaus erhielten zahlreiche Zulieferbetriebe, Einzelhändler und Handwerksbetriebe Aufträge, um das Lagerleben unterhalten zu können.

Das Bohldammlager als Kunde in der Region

Bei der täglichen Versorgung so vieler Menschen war natürlich die Lebensmittelbelieferung ein wichtiger Faktor und das Bohldammlager wurde dadurch für die Händler der Umgebung zu einem nicht unbedeutenden Auftraggeber.
Bruno Leschowsky war ein Mann der ersten und der letzten Stunde im Bohldammlager und kann einen Einblick in den Verwaltungsalltag geben. Aus Ostpreußen stammend, wurde er als Soldat in Schleswig-Holstein entlassen und begann 1947 im Lager zu arbeiten, zunächst in der Barackenaufsicht und dann später als Küchenverwalter. Nach Auflösung des Lagers 1963 blieb er dort und verwaltete das Katastrophenschutzlager des Regierungsbezirks Lüneburg, das dort bis 1974 eingerichtet war. Bruno Leschoswky kann sich heute nicht mehr genau erinnern, zu welchem Zeitpunkt er die Verwaltung des Küchendienstes übernahm, aber noch daran, dass er einen täglichen Bestand von circa 800 Menschen zu versorgen hatte.

„Pro Flüchtling gab es pro Tag einen bestimmten Satz, damit musste man auskommen. Man hafte so zu wirtschaften, für circa zwei Mark musste der gut versorgt werden. Zu den Feiertagen gab es noch etwas Besonderes, z.B. Stollen, aber nicht mehr Geld. Das wurde ja ausgeschrieben, circa für ein halbes Jahr. Zeitweise haben wir fünf Bäcker gehabt, die uns beliefert haben. Lebensmittel, Boguhn, jeder wollte einen Zuschlag haben. Aber auch auswärtige Firmen, z.B. aus Braunschweig, haben beliefert. Es gab auch Spenden, aus Übersee 200 I Fässer Honig. Es ist jeder satt geworden, und es gab nicht nur Eintopf. Walfischgulasch beispielsweise war günstiger als Rindfleisch damals.“

Herr Leschowsky gibt in seiner Ausführung interessante Hinweise über seinen Arbeitsalltag, nämlich, dass ein gewisser Erfindungsreichtum und organisatorisches Gespür notwendig war, um täglich eın ausgewogenes sowie abwechslungreiches Essen für viele Menschen auf den Tisch zu bringen. Und dass schien ihm durchaus gelungen zu sein, denn die gute Verpflegung des Lagers wurde in Danksagungen von Flüchtlingen viel gelobt. Die noch vorhandenen ; 7 I a wöchentlichen Speisepläne zeigen zu1, oo FR x, dem, dass es nicht nur Eintopf gab. Grundsätzlich wurde wohl ein Teil benötigter Haushaltswaren und Wohnungszubehör von einer zentralen Beschaffungsstelle bezogen, während vor allem Lebensmittel und auch Heizmatertalien vorwiegend bei örtlichen Händlern gekauft wurden.

Der Lagerverwaltung lag durchaus an den wirtschaftlichen Beziehungen der Umgebung. So wurde z.B. bei dem Einkauf von Bettzubehör 1955 darauf hingewiesen, dass man in Uelzen teilweise billiger einkaufen könne und zudem der Direkteinkauf ım Raum Uelzen schon im Hinblick auf die Lage der Stadt Uelzen ım Zonengrenzgebiet gefördert werden müsse. So wurden Lebensmittellieferaufträge in der Regel an örtliche Händler erteilt.
Die Prüfung der Einkaufsrechnungen wurde von der Lagerverwaltung selbst vorgenommen und anschließend an das Rechnungsamt der Regierung weitergeleitet. Außerdem nahm die Preisüberwachungsstelle in Lüneburg ungefähr einmal pro Monat Einsicht in die Rechnungen.

1953 wurden beispielsweise Lebensmittel im Wert von rund 408.350 DM eingekauft. Allein ein Drittel dieser Summe wurde für Fleischund Wurstwaren ausgegeben. Die Aufträge erfolgten durch eine beschränkte Ausschreibung an drei bis vier Firmen aus Uelzen. Die Aufträge wurden unter den Betrieben durch Losen erteilt. Auch die übrigen Lieferungen erfolgten vorwiegend von Betrieben der Umgebung, die häufig für die Großaufträge einen gewissen Preisnachlass gewährten. Eier wurden von der Uelzener Genossenschaft bezogen, Milch und Butter von der Uelzener Molkerei, wobei die Milch direkt in Kannen abgeholt wurde. Kartoffeln wurden nach Ausschreibung von Bauern der Umgebung geliefert, Fisch von örtlichen Fischhändlern und von Hamburger Genossenschaften. Reis und Zucker wurden unter vier einheimischen Großhändlern ausgeschrieben. Gemüse wurde von einem Uelzener Händler zu Großmarktpreisen geliefert, während für die Lieferung von Hülsenfrüchten zwei andere Händler betraut wurden. Über die zentrale Lieferungsstelle wurden 1953 nur Konserven, Marmelade, Ersatzkaffee, Kokosfett und Pudding bezogen. Auch die Lieferung von Brennmaterial erfolgte von Uelzener Händlern.
1955 wurde die Lagerleitung bei einer Prüfung darauf hingewiesen, dass grundsätzlich immer die günstigere Firma bei der Vergabe zu berücksichtigen sei, was wohl in einem Fall nicht gehandhabt worden war. Wie lukrativ die Geschäftsbeziehungen der Firmen zum Lager zum Teil gewesen sind, lässt sich am Beispiel des Uelzener Großhändlers Boguhn veranschaulichen, der im Jahr 1954 Lebensmittel und Seifen im Wert von 100.000 Mark an das Lager lieferte.