Mit Ende des Zweiten Weltkrieges setzte in Europa eine riesige Welle bisher ungeahnten Ausmaßes von Flucht und Vertreibung ein. Die alliierte Konferenz von Potsdam sanktionierte die begonnenen „wilden“ Vertreibungen Deutscher aus den Gebieten östlich der Oder-Neiße Linie und wollte die „Überführung“ nun organisiert und „human“ zum Abschluss bringen.
In Potsdam wurde die Ausweisung von 6,65 Millionen Deutschen beschlossen, davon sollten 3,9 Millionen Menschen in den westlichen Besatzungszonen Aufnahme finden. Nach den Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus war ein friedliches Zusammenleben mit Deutschen in Osteuropa nicht mehr vorstellbar. Ferner wurde die „ethnische Trennung“ in Osteuropa auch als eine Konsequenz aus den Erfahrungen der Versailler Beschlüsse nach dem Ersten Weltkrieg angesehen. Mit der Vertreibung deutscher Bevölkerungsgruppen sollte ein potentieller Unruheherd ein für allemal beseitigt werden. Insgesamt wurden durch diese Vorgehensweise der Alliierten nach dem Zweiten Weltkrieg etwa 20 Millionen Menschen heimatlos. Davon waren 14 Millionen Deutsche, von denen zwei Millionen infolge von Flucht und Vertreibung starben.
Um diese zwangsweise durchgeführte Völkerwanderung aus dem Osten wenigstens ansatzweise in den Griff zu bekommen, sollten im Bereich des späteren Niedersachsens längs der Grenze zur sowjetisch besetzten Zone Lager errichtet werden, in denen Flüchtlinge und Heimkehrer aufgenommen und anschließend den Gemeinden zur Unterbringung weitergeleitet werden sollten. Im Herbst 1945 wurden in Niedersachsen etwa 500.000 Menschen erwartet.
Anordnung der Errichtung eines zentralen Flüchtlingsdurchgangslagers in Uelzen
Im September 1945 wurde auf Beschluss der britischen Militärverwaltung die Errichtung eines zentralen Flüchtlingsdurchgangslagers in Uelzen angeordnet. Vermutlich wurde die kleine Stadt in der Heide deswegen ausgewählt, da sie mit ihrem Bahnhof einen günstigen ost-westlichen Verkehrsknoten darstellte und die Menschen von hier aus entsprechend weiter verteilt werden konnten. Ein geeigneter Platz in der Nähe des Bahnhofes war auch gefunden, es wurde extra eine Rampe angelegt, sodass die Menschen direkt vor dem Lager aussteigen konnten und nicht etwa über den Bahnhof und durch die Stadt geleitet werden mussten. „Zu diesem Zweck wurde das Lagergelände im Gemeindebezirk Veerßen bei Uelzen in der Größe von 4 ha, 94 a und 52qm von der Estorffschen Gutsverwaltung Veerßen zunächst beschlagnahmt, später pachtweise übernommen.“
Das Gelände wurde 1953 vom Land Niedersachsen erworben. Mit Hilfe von deutschen Kriegsgefangenen, aber auch von in Uelzen angeworbenen Männern wurden anfangs acht Holzbaracken, 142 Finnenzelte und 150 britische Rundzelte aufgebaut. Die 120 deutschen Soldaten wurden aus dem Gefangenenlager Munster abkommandiert, einige von ihnen wurden später als Lagerpersonal übernommen. Die Arbeit konnte zum 1. Oktober aufgenommen werden. Die Zelte wurden nach und nach durch Baracken aus englischen Beständen und aus Beständen des Reichsarbeitsdienstes ersetzt, die u.a. vom Bahnhof Uelzen, aus Wittingen und aus Seedorf stammten. Die Baracken enthielten zuerst große Sammelunterkünfte, die in späteren Jahren umgebaut wurden. Ende 1945 nahm das Lager Uelzen mindestens 5.000 Flüchtlinge auf. Dennoch wurde man von den kommenden Ereignissen förmlich überrollt.
Der anschwellende Flüchtlingsstrom führte zu diversen Problemen mit der Unterbringung, Versorgung und Weiterleitung der vielen Menschen. Die im Lager tätigen Angestellten hatten die ankommenden Personen nach den damals festgelegten Bestimmungen zu registrieren, die von der britischen Militärregierung mit der provisorischen deutschen Verwaltung festgelegt worden waren. Hamburg, Bremen, einige niedersächsische Großstädte und Schleswig-Holstein brauchten wegen Überlastung bzw. starker Zerstörung keine weiteren Flüchtlinge aufzunehmen. Denn der Bereich Niedersachsens war seit Anfang 1945 mit Evakuierten und Flüchtlingen stark frequentiert. Im Durchschnitt war die Bevölkerung in Niedersachsen im Sommer 1945 seit 1939 um 31° angestiegen, wobei das Wachstum in den einzelnen Landesteilen unterschiedlich war. Die höchsten Werte erreichten die Regierungsbezirke Soltau und Lüneburg mit 79 bzw. 82 Prozent.
„Am stärksten war am 1.12.45 der Landkreis Uelzen im Osten des Landes mit vertriebenen Zuwanderern und Umquartierten aus anderen Zonen belegt. Der Anteil der obigen Personenkreise an der eingesessenen Bevölkerung des Kreises Uelzen betrug am Stichtag mehr als 73 v. H.“
Das Oberpräsidium in Hannover hatte im Sommer 1945 noch versucht, einen Ausgleich zu verschaffen, indem u.a. die Zuzugsbeschränkungen einiger Kreise aufgehoben werden sollten, um Umquartierungen zu ermöglichen. Diese Pläne wurden jedoch durch die politischen Ereignisse überholt, die mit den Beschlüssen von Potsdam und der dort beschlossenen Ausweisung von Deutschen aus den ehemaligen Ostgebieten nochmals ein ungeheures Anschwellen von Flüchtlingen hervorgerufen hatten.
Die Aktionen Expeller, Schwalbe, und Clobber
Der Regierungsbezirk Lüneburg wurde in der folgenden Zeit nicht, wie vom Oberpräsidenten beabsichtigt, entlastet, sondern es wurden mit den Aktionen „Expeller“, „Schwalbe“, und „Clobber“ weitere 25.000 Menschen zugewiesen. Die Zuweisung ging auf die Anweisung der britischen Militärführung in Lüneburg zurück, die übergeordneten Stellen in Hannover erklärt hatte, dass im Bezirk auch ohne weiteres 43.000 Flüchtlinge aufgenommen werden könnten. Die britische Besatzungsmacht war im Umgang der deutschen Verwaltung vorsichtig und misstrauisch, zudem sollte der östliche Bereich Niedersachsens mit seiner traditionell geringeren Bevölkerungsdichte möglichst viele Menschen aufnehmen.
Anfang 1946 wurden im Bereich Niedersachsens bereits 646.000 Vertriebene gezählt. Davon waren die meisten Durchreisende, allerdings blieben 30 von hundert Flüchtlingen in Niedersachsen. Von Anfang Mai 1946 bis Ende September 1947 nahm das Lager mehr als 800.000 Flüchtlinge aus den Gebieten östlich der Oder-Neiße-Linie auf. In dieser Zeit kamen täglich bis zu 6000 Menschen nach Uelzen, was nur im Rahmen eines 3-Schichten-Systems arbeitsmäßig zu bewältigen war.
Ab September 1947 setzte, mit etwa 15.000 Flüchtlingen, die zuvor in Dänemark interniert gewesen waren, der Zustrom „illegaler“ Zuwanderer aus der sowjetisch besetzten Zone ein, mit denen anfangs niemand gerechnet hatte.
In den ersten Nachkriegsjahren erfolgte eine verhältnismäßig hohe Belegung von Gemeinden unter 5.000 Einwohnern, da sich hier die Kriegszerstörungen und der sich daraus ergebene Wohnraummangel nicht so extrem auswirkten wie in den größeren Gemeinden. Die hohen Belegungen hatten dennoch Auswirkungen auf die Wirtschafts- und Sozialstruktur der Ortschaften. Spannungen blieben da nicht aus.
Flüchtlingsbetreuungsgesetz & Housing Law – Bekämpfung der Wohnungsnot
Die britische Besatzungsmacht, die in ihrer Zone eine streng hierarchische Verwaltung aufbaute, versuchte mit verschiedenen Maßnahmen, die schwierige Situation in den Griff zu bekommen und gleichzeitig der deutschen Bevölkerung zu verdeutlichen, dass sie für die Neuankömmlinge in der Verantwortung standen.
Mit der Anordnung Nr. 10 vom November 1945 hatte die alliierte Kontrollkommission ihre Absicht zum Ausdruck gegeben, die Aufgaben der Flüchtlingsaufnahme teilweise auf die deutschen Behörden zu verlagern. Auf allen Verwaltungsebenen wurden Flüchtlingsausschüsse gebildet, an deren Spitze sich ein Landesflüchtlingsamt befand, das dem Oberpräsidenten direkt unterstand. Die Flüchtlingsausschüsse sollten bei der wirtschaftlichen wie sozialen Eingliederung behilflich sein und die Behörden in diesen Belangen beraten. Mit dem niedersächsischen Flüchtlingsbetreuungsgesetz vom Juni 1947 wurde der Aufbau der Flüchtlingsbetreuung neu organisiert. Im März 1946 wurde ferner das „Housing law“ erlassen, um die eklatante Wohnungsnot zu bekämpfen. Das Gesetz sah die Einrichtung von Wohnungsämtern vor, die den vorhandenen Wohnraum erfassen und gerecht verteilen sollten. Als Richtwert wurde dafür eine Wohnfläche von 4 Quadratmetern pro erwachsener Person veranschlagt.
Allerdings klagte nicht nur Heinrich Albertz, der zu jenem Zeitpunkt zuständige Flüchtlingsvertreter des Regierungsbezirks Lüneburg, über die fehlende Bereitschaft Einheimischer, Wohnraum zur Verfügung zu stellen. Die mangelhafte Solidarität war seiner Ansicht nach schlimmer als die Not selbst.
Von den Kreisen und Städten mussten zusätzlich Auffanglager errichtet werden, die wiederum die vom Durchgangslager Bohldamm zugewiesenen Flüchtlinge vorübergehend aufnehmen sollten, bis ihnen Wohnraum und Arbeit beschafft werden konnte. In dieser Improvisierten Situation hatten aber viele Menschen über Jahre auszuharren.
Kritische Versorgungslage
Auch die Versorgungslage der vom Krieg geschwächten Bevölkerung war äußerst problematisch. Kriegszerstörungen und die Trennung eines Wirtschaftsraumes in die vier Zonen hatten wirtschaftlich fatale Folgen. Durch die Gebietsabtrennungen im Osten gingen zudem etwa 25 Prozent der landwirtschaftlich genutzten Fläche verloren, mit der die deutsche Bevölkerung nun auskommen musste. So konnte die von der britischen Militärregierung in ihrer Zone angestrebte Nahrungsmittelversorgung 1945 nicht eingehalten werden. 1946 rangierten die täglichen 1.050 Kalorien pro Person innerhalb der britischen Zone noch hinter der Kalorienzahl, die den Menschen durchschnittlich in der sowjetischen Zone zur Verfügung standen. Seit Frühjahr 1947 war ein zunehmendes Klagen über mangelnde Lebensmittelversorgung festzustellen. Ein Anstieg von Tbc unter Flüchtlingskindern wurde gemeldet.
Im Hungerwinter 1947/48 fiel die tägliche Kalorienzahl eines Normalverbrauchers sogar auf den Tiefstand von 1023 Kalorien. Viele Menschen wurden nicht zuletzt durch die meist privaten Unterstützungen aus dem Ausland vor dem Verhungern bewahrt. Die desaströse Situation ließ Befürchtungen vor einer möglichen Radikalisierung von Flüchtlingen entstehen. Dies war eine Ursache für das anfangs bestehende Koalitionsverbot von Flüchtlingen und Vertriebenen. Außerdem sollten Flüchtlinge nach den Vorstellungen der Besatzungsmacht schnell in die westdeutsche Gesellschaft integriert werden und damit keine gesonderte Minderheit, die ihre Interessen artikulierte, darstellen.
In dieser durch die desolate Lage zugespitzten Situation war es auch auf politischer Ebene zu Auseinandersetzungen um die Behandlung der Flüchtlingsfrage gekommen. So hatte bereits am 6.9.1947 der Vertrauensmann des Kreises Uelzen, Pfarrer Schulz-Rakwitz, sein Amt aus Protest niedergelegt. Pfarrer Heinrich Albertz war schon einen Monat zuvor vom Posten des ehrenamtlichen Leiters des Bezirksflüchtlingsamtes des Regierungsbezirkes Lüneburg und als ehrenamtlicher Leiter des Sonderreferates für kulturelle Betreuung beim Staatskommissariat zurückgetreten. Albertz wurde am 9.6.1948 Niedersächsischer Minister für Vertriebenenangelegenheiten und entfaltete in seinem Amt ein großes Engagement für einen Wandel der niedersächsischen Flüchtlingspolitik.
Die Währungsreform 1948
Die Währungsreform 1948 brachte zwar bald spürbare Erleichterungen der Versorgungslage, aber auch hier waren Flüchtlinge deutlich im – Nachteil, denn sie gehörten als Besitzlose zu den Verlierern der Währungsreform. Zahlreiche von ihnen, die sich bis dahin noch mit verschiedenen Gelegenheitsarbeiten durchgeschlagen hatten, wurden nun arbeitslos. Bereits vor der Währungsreform waren Forderungen eines Lastenausgleichs für Flüchtlinge und Vertriebene gestellt worden, der erst 1952 mittels Gesetz verwirklicht werden sollte. Von einer anfangs diskutierten Vermögensneuregelung samt Bodenreform war aber bald keine Zu Rede mehr.
Zunächst wurde am 8. August 1949 das Gesetz zur „Milderung sozialer Notstände“, allgemein als Soforthilfegesetz bezeichnet, erlassen, das die Hilfe für Kriegssach- und Währungsgeschädigte, politisch Verfolgte, Vertriebene sowie Flüchtlinge zu regeln suchte. Die Zahlungen orientierten sich nach Bedürfnisgesichtspunkten der Geschädigten und waren vorläufige Leistungen im Rahmen eines Notprogramms. Das Besondere am Gesetz sollte dessen Finanzierung durch das Solidaritätsprinzip aller Bürger in Form der Zahlung einer Sondervermögenssteuer sein. Ergänzend zum Soforthilfegesetz trat am 1.9.1952 das Lastenausgleichsgesetz in Kraft. Der Grundgedanke hierbei lag bei der Entschädigung, und nicht etwa auf einem Ausgleich für das verlorene Vermögen von Flüchtlingen und Vertriebenen. Diese Maßnahmen halfen bei der Verringerung der unmittelbaren materiellen Not und waren ein wichtiges auch psychologisches Mittel zur Integration in die bundesdeutsche Gesellschaft.
Dennoch war es bis zum Ankommen in dieser neuen Gesellschaft ein weiter Weg. Gerade die Arbeitsbeschaffung für Flüchtlinge und Vertriebene war bis in die fünfziger Jahre ein Problem. Viele konnten ihre erlernten Berufe nicht mehr ausüben, und die Bereitschaft, den neuen Mitbürgern zu Arbeit zu verhelfen, hielt sich oft in engen Grenzen. So waren 1950 40,3 % der Arbeitslosen in Niedersachsen „Neubürger“. Arbeitslosigkeit war natürlich auch eine Belastung für die Gemeinden des Kreises Uelzen, der hohe Flüchtlingsanteile nachzuweisen hatte.