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Die Vertiefung der Spaltung der zwei deutschen Staaten wurde von beiden Seiten weiter vorangetrieben. In der DDR kam es nach den Unruhen und dem Anwachsen des Flüchtlingsstroms zu einer Phase einer zeitweisen Beruhigung der politischen Situation. Die durch den Tod Stalins und dem Arbeiteraufstand vom Juni 1953 entstandene innerparteiliche Krise der SED zwang die Partei zu einem gewissen Entgegenkommen. Der Bevölkerung wurden Reformen versprochen, der „neue Kurs“ sollte weiter geführt werden. Gleichzeitig gelang es der Parteiführung, „die Grundstrukturen ihres stalinistischen Systems in der DDR zu konservieren.“

Volle Souveränität

Ebenso wie die Bundesrepublik mit dem Nato-Beitritt die volle Souveränität erhielt, garantierte der Vertrag von Moskau im September 1955 die völlige Souveränität der DDR. Auf internationaler Ebene hatte die Genfer Gipfelkonferenz der Großmächte eine gewisse Entspannung herbeigeführt, allerdings hatten der damalige Ministerpräsident Bulganin und Parteichef Chruschtschow ım Anschluss in Berlin erstmals die „Zwei-Staaten-Theorie“ öffentlich erläutert und erklärt, dass eine Wiedervereinigung beider deutscher Staaten nur unter Wahrung der „sozialistischen Errungenschaften“ der DDR möglich sein könne. Nach den Unruhen in Polen und Ungarn 1956 wurde Ulbricht von den Machthabern wieder gestützt, nachdem seine Position zuvor schon zu bröckeln schien. Er betonte daraufhin, dass es keinen „Dritten Weg‘ zum Sozialismus geben könne.

In der Bundesrepublik wurde ihrerseits die Westintegration vorangetrieben. Die Einheit Deutschlands galt zwar als unantastbares oberstes bundespolitisches Gebot, was in verschiedener Weise deutlich artikuliert wurde. So wurde beispielweise im Juni 1954 erstmals im Gedenken des Aufstandes des Vorjahres der 17. Juni als nationaler Gedenktag begangen. Im Bereich der Außenpolitik galt ab 1955 die sogenannten Hallstein-Doktrin. Die Bundesrepublik reagierte auf die Aufnahme oder Unterhaltung diplomatischer Beziehungen von Drittstaaten mit der DDR aufgrund ihres Alleinvertretungsanspruchs mit dem Abbruch der diplomatischen Beziehungen. Dennoch wurde spätestens mit dem Beschluss des Beitritts zur Europäischen Verteidigungsgemeinschaft deutlich, dass die Wiedervereinigung beider deutscher Staaten in weite Ferne gerückt war.
Eine Spaltung beider Staaten erfolgte aber auch durch die soziale Umschichtung innerhalb der Gesellschaft der DDR. Durch die Entnazifizierung und Enteignungen war nicht nur das Besitzbürgertum, sondern auch der gesellschaftliche „Mittelstand“ insgesamt weitgehend dezimiert. Veränderungen ım Bildungswesen bewirkten, dass neue Schichten einen beruflichen und gesellschaftlichen Aufstieg erreichen konnten. Im Gegensatz dazu wurden in der Bundesrepublik die alten Besitzverhältnisse konserviert.

Mit Beruhigung der politischen Krise in der DDR ließ die Flüchtlingsbewegung nach. Sie sank von 331.390 Personen im Jahr 1953 auf 184.198 im Jahr 1954, stieg aber 1955 wieder auf 252.870 Flüchtlinge an. Bereits im Oktober 1954 wurde vom stellvertretenen Lagerleiter in Uelzen mitgeteilt, dass wegen des umfangreichen Zugangs von Flüchtlingen zweimal pro Woche, montags und donnerstags, Verteilungen durch die Ländervertreter vorgenommen wurden. Allerdings hatten die Aufnahmelager 1954 mit der Entspannung der politischen Lage die Anweisung erhalten, innerhalb der Aufnahmeverfahren wieder strenger zu verfahren und die Zügel für die Anerkennung anzuziehen, was eine Zeitlang auch eingehalten wurde. So wurden 1953 insgesamt nur 4,5% Flüchtlinge in den Aufnahmeverfahren abgelehnt, während 1954 bereits wieder 18,6% und 1955 17,5% Menschen offiziell nicht aufgenommen wurden. In Uelzen lagen die Ablehnungsquoten zeitweise sehr viel höher.

„Billigkeitsgründen im Wege des Ermessens“

Das Leben mit den Zuwanderern wurde dennoch Alltag und Routine. Außerdem ging die Ablehnungsquote ab Mitte der fünfziger Jahre wieder zurück, was auch die Diskussion um den Sinn des Notaufnahmegesetzes beleben sollte. 1956 hatten insgesamt 279.189 Personen die Aufnahme in die Bundesrepublik beantragt, davon waren 12,1% abgelehnt worden. Im folgenden Jahr wurden bei fast konstanter Personenzahl nur noch 3,8% der Antragssteller abgelehnt.

Der größte Anteil der Aufgenommenen zwischen 1954 und 1957 wurde aus „Billigkeitsgründen im Wege des Ermessens“ aufgenommen. Auch die Personen, die wegen Vorhandenseins einer ausreichenden Lebensgrundlage aufgenommen wurden, waren in diesem Zeitraum deutlich angestiegen. Die Aufnahmekriterien wurden zunehmend zugunsten der Zuwanderer interpretiert. So musste nach einem Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom April 1957 einem Antragssteller eine „ausreichende Lebensgrundlage“ bereits bejaht und damit eine Aufnahme anerkannt werden, wenn zu erwarten war, dass der Antragssteller nicht „dauernd hilfsbedürftig“ sein würde. Außerdem wurde die Angabe des „Gewissenkonfliktes“ als Kriterium akzeptiert. Die Notaufnahmestellen wurden angewiesen, den Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts umzusetzen, und die so Aufgenommenen wurden mit in die Länderverteilung einbezogen.

Diese Entwicklung wurde zumindest von Minister Oberländer äußerst kritisch gesehen. Er stellte fest, dass nun ein Antragssteller nur dann abgelehnt werden könne, wenn der Aufnahme ein sonstiger Versagungsgrund nach Art. 11 des GG entgegenstehe, z.B. um strafbare Handlungen vorzubeugen. Das Ablehnungsproblem habe durch diese Entwicklung an Bedeutung verloren. Er führte in diesem Zusammenhang aber auch aus, dass schon in den Jahren zuvor ein großer Teil der Abgelehnten im Nachhinein anerkannt worden sei, um die Gemeinden – gerade Berlin – zu entlasten. Außerdem erhielten die Länder vom Bund für Wohnungsbau seit 1953 für Flüchtlinge erhebliche Zuschüsse.

Wohnungsbauförderung und Arbeitsvermittlung

Gerade mit dem Hinweis auf die Wohnungsbauförderung wies Oberländer darauf hin, dass das Gesetz immer mehr ausgehöhlt wurde, nicht nur wegen der Änderung der rechtlichen Auslegung, sondern weil sie mittlerweile auch den Interessen der Länder entgegenlief. Das Notaufnahmegesetz konnte seine Aufgabe ohnehin nıe ganz erfüllen, dafür war die abschreckende Wirkung zu gering. Im Bereich des Wohnungsbaus wurde der Kreis der Berechtigen nach und nach aufgrund der schlechten Wohnungslage über die politisch Anerkannten hinaus erweitert. Dadurch wurde die Notaufnahme noch mehr verwischt. Daher gab es seit 1956 erneut von Seiten der Opposition und der Länder Versuche, das Gesetz der Realität anzupassen und ein reines Registrier- und Verteilungsverfahren einzuführen. Aber alle Forderungen der Gesetzesänderung, so auch ein erneuter Vorstoß der SPD im Jahr 1958, wurde von der Regierung hartnäckig abgelehnt. Ein Grund dafür könnte sein, dass so zumindest ein Teil der Zuwanderer überprüft werden konnte. Gerade im Bereich der Arbeitsvermittlung wird die „Schleusenfunktion“ der Notaufnahmelager wieder deutlich. Spätestens ab 1955, mit Einführung der Bundeswehr, kam noch ein weiteres Kriterium ins Spiel, dass mit den Anerkennungsverfahren nicht nur die politischen Flüchtlinge herausgefiltert werden sollten, sondern gleichzeitig potentielle Militär- und Industriespionage abgewehrt werden sollte. An dieser Stelle waren dann auch die im Lager tätigen Kripo- und Geheimdienststellen „gefragt“. So verdeutlichte der Beauftragte für das Verteilungsverfahren dem niedersächsischen Vertriebenenministerium:

„Im Zusammenhang mit dem Aufbau der Wehrwirtschaftsindustrie gewinnt das Problem des Industrieschutzes gegenüber Arbeitskräften aus der sowjetischen Besatzungszone insoweit eine besondere Bedeutung, als bei dem bisherigen Verfahren die Gewähr für einen ausreichenden Schutz vor politisch unsicheren Elementen nicht gegeben scheint… Verschiedene Einzelfälle lassen erkennen, dass die Industriewerke bei der Absicht, SBZ-Flüchtlinge einzustellen, davon ausgehen, dass deren politisches Verhalten durch das Notaufnahmeverfahren einwandfrei geklärt wird… Dementsprechend scheint es schon jetzt als Vorbeugungsmaßnahme zweckmäßig – ähnlich wie bei dem Personenkreis, der sich um Einstellung in den öffentlichen Dienst bewirbt – eine anders geartete und erweiterte Überprüfung bei denjenigen Personen vorzunehmen, die in wichtigen Industriezweigen finden sollen.“

Dieses Anschreiben bezog sich auf einige Vorfälle. bei denen sich vermeintlich „suspekte“ Personen in Wolfsburg beworben hatten, was bekannt geworden war.

Insgesamt hatte sich die Situation aber seit 1949 grundlegend verändert. Die wirtschaftliche Lage in Westdeutschland war mittlerweile soweit stabilisiert, dass man Flüchtlinge nicht nur besser versorgen konnte, sondern aufgrund des wirtschaftlichen Wachstums auch zusätzliche Arbeitskräfte benötigte. „Der Sinneswandel der Länder ging so weit, dass sie 1958 offen um die arbeitsfähigen Zuwanderer konkurrierten.“ Die Attraktivität günstiger Arbeitskräfte wurde ja auch in Uelzen sichtbar und mehrfach beklagt, dass es gegen die illegalen Anwerbungsversuche im Umfeld des Bohldammlagers kaum eine Handhabe gab. Der politische Umgang blieb nach wie vor ein äußerst sensibler Bereich, denn die Durchlauf-Praxis blieb, zwar von der Opposition kritisiert, u.a. mit der Argumentation der Wahrung gesamtdeutscher Interessen, bestehen. Das Konstrukt der Aufnahme schuf außerdem einen bürokratischen Apparat, der wegen der politischen Argumentation aufrecht erhalten wurde, auch noch als augenscheinlich wurde, dass sich die Aufnahmeverfahren gewissermaßen überholt hatten. Die Bürokratie des Aufnahmeverfahrens unterstützte ferner das Misstrauen gegen den poltischen Gegner im Osten, was wiederum gleichzeitig nützlich war, um die Überlegenheit des westlichen System darstellen zu können, und damit auch eigene politische Ziele durchzusetzen. Die Zuwanderer wurden mitunter durchaus durch ihre „Abstimmung mit den Füßen“ für politische Auseinandersetzungen innerhalb der Bundesrepublik benutzt.

Nachlassende Wanderungsintensität aus der DDR

Die Wanderungsintensität aus der DDR ließ insgesamt zwischen 1957 und 1959 nach. Allerdings kann für diesen Zeitraum angenommen werden, dass eine große Zahl von Zuwanderern, wegen der guten Aussichten auf dem Arbeitsmarkt, das Aufnahmeverfahren in den Notaufnahmelagern umging. Der geringere Zulauf war aber auch durch die zunehmend härteren Strafverfolgungen von Fluchtversuchen in der DDR bedingt, die sich gleichzeitig in einer gewissen wirtschaftlichen Konsolidierungsphase befand. Die Industrieproduktion stieg an, vor allem die Konsumproduktion brachte Fortschritte. Im Mai 1958 verschwanden auch endlich die Lebensmittelkarten. Durch diese günstige Entwicklung ließ sich die Führung gar zu den Plänen verleiten, die Bundesrepublik innerhalb kurzer Zeit wirtschaftlich überholen zu wollen. Mit der wirtschaftlichen Besserstellung wurden die Menschen aber gleichzeitig immer mehr eingesperrt, da die Wanderungsbewegung ın den Westen nicht aufzuhalten war. Bereits 1954 war mit dem Passgesetz erlassen, das jedes Verlassen des Landes zur Republikflucht erklärte und mit bis zu drei Jahren Haft bestrafte. Auch Fluchthilfe wurde bestraft.

Diese Entwicklung spiegelt sich auch im Arbeitsalltag des Notaufnahmelagers Uelzen wider. Die Zahl der ankommenden Zuwanderer in Uelzen ging seit Mitte der fünfziger Jahre zurück, was vermutlich auch mit der Einrichtung des Aufnahmelagers ın Berlin Marienfelde zusammenhing. So wurde die Zahl der Zugänge in Uelzen 1954 mit 66.789 Menschen angegeben, 1955 mit 50.878 und 1956 nur noch 25.093. Die Zahlen waren auch in der folgenden Zeit weiter rückläufig.

Es wurde allerdings von den Lagermitarbeitern verschiedentlich darauf hingewiesen, dass sich unter den Abgewiesenen die „problematischen“ Fälle erhöht hätten, die inhaltliche Arbeit also erschwert worden war. Beispielsweise berichtete Lagerleiter Brauner im Juni 1958 auf der Kuratoriumssitzung der Einsatzgruppe des Evangelischen Hilfswerkes, dass durch das neue Passgesetz in der DDR ein erheblicher Flüchtlingsrückgang von täglich 100 bis 130 Personen auf mittlerweile 15 bis 18 Menschen am Tag festzustellen sei. Dabei handele es sich aber um „wirklich echte Flüchtlinge, dıe sämtliche Brücken hinter sich abgebrochen“ hätten. Deshalb sei im Verhältnis auch die Zahl der politisch anerkannten Flüchtlinge angestiegen. Weggefallen seien dagegen die „Wanderer zwischen zwei Welten“. Damit hatte das Lager zwischenzeitlich Kapazitäten frei, sodass man u.a. auch Spätaussiedler im Lager aufnahm, die ansonsten in Friedland untergebracht wurden. Dabei handelte es sich um Spätaussiedler, die für Nordrhein-Westfalen vorgesehen waren, aus Platzmangel aber noch nicht in den zuständigen Landeslagern aufgenommen werden konnten. Laut Brauner erforderte die Betreuung dieser Gruppe größere Anstrengungen, da ihr Gesundheitszustand häufig schlechter sei als bei den anderen Flüchtlingen und sie meist sehr verunsichert seien und einer verstärkten Zuwendung bedürften.

Anfang September 1958 sollte sich die Situation allerdings wieder kurzfristig ändern, denn die Flüchtlingszahlen schnellten erneut in die Höhe. Nochmals ist eine Einstellungsänderung hinsichtlich der Notaufnahme erkennbar, denn es wird von Seiten des niedersächsischen Vertriebenenministeriums gefordert, auch die nicht anerkannten Flüchtlinge auf die Länder zu verteilen, um so die Kosten für das Land Niedersachsen gering halten zu können. Allerdings war die Ablehnungsquote seit der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts stetig zurück gegangen und lag bereits im Dezember 1957 bei 0,6%.

Notaufnahmeverfahren

So erging am 2. September 1958 ein Schnellbrief des Bundesministers für Vertriebene an alle Länder hinsichtlich der Behebung eines Notstandes in Berlin. Der Minister führte aus dass eine erhöhte Fluchtbewegung aus der Ostzone eine derart prekäre Situation in Berlin geschaffen habe, dass die Arbeitsfähigkeit der Berliner Notaufnahme gefährdet sei. Daher sollten Zuwanderer, bei denen keine zwingenden Gründe zur Durchführung des Verfahrens in Berlin vorliegen würden, nach Uelzen und Gießen weitergeleitet werden, soweit das die Aufnahmekapazität der Länder zulasse. Die Zuteilung der in Berlin aufgenommenen Flüchtlinge solle in einer 24-Stunden-Frist, ausnahmsweise 36 Stunden, erfolgen. Mit den Leitern der Ostbüros aller Parteien werde eine Vereinbarung angestrebt, wonach nach 24 Stunden ohne Stellungnahme der Parteien über die Notaufnahme entschieden werde. Die Länder mit einem Abflug-Rückstau würden um einen sofortigen Abbau desselben gebeten, Hinsichtlich der Situation in Niedersachsen werde man Nordrhein-Westfalen bitten, keinen Gebrauch von der Vereinbarung zu machen, in der bis zu 300 für dort vorgesehene Aussiedler in Uelzen untergebracht werden können. Lagerleiter Brauner schrieb am folgenden Tag an den Leiter des Notaufnahmeverfahrens und stellte klar, unter welchen Bedingungen man in Uelzen schnell und effektiv Flüchtlinge aus Berlin übernehmen könne. Er schrieb, dass man sofort 300 Flüchtlinge unterbringen könne, später bestünde die Möglichkeit, täglich 100 Personen nach Uelzen zu überführen. Dies könne aber nur geschehen, wenn die zur Debatte stehenden 300 Plätze für das Land Baden-Würtemberg nicht beansprucht würden, außerdem der Rückstau dieses Bundeslandes von circa 100 Personen sofort beendet würde und wenn keine Aussiedler für Nordrhein-Westfalen aufgenommen werden brauchten. Ferner müsse vom Aufnahmeverfahren sichergestellt werden, dass der Zugang laufend verkraftet würde, keine Vertagungen vorgenommen würden und möglichst keine Beschwerdefälle entstünden sowie die Abnahme durch dıe Länder spätestens 24 Stunden nach Einweisung erfolge. Regierungsdirektor Schütte vom niedersächsischen Vertriebenenministerium, der dieses Schreiben ebenfalls erhalten hatte, stellte zusätzlich noch die Bedingung, dass Abgelehnte ebenfalls auf die Länder verteilt werden müssten, um dem Land Niedersachsen nicht noch weitere Lasten aufzubürden. Der Regierungsdirektor konnte außerdem vermerken, dass die Transportkosten, also die Flugkosten und Kosten für den Bus von Langenhagen nach Uelzen von Berlin übernommen würden.

Somit lief die Aktion an und konnte in Uelzen angemessen über die Bühne gebracht werden. Mitte September belief sich die Anzahl der Flüchtlinge auf etwa 180 pro Tag, wie die Uelzener AZ berichtete. Der Prozentsatz der nicht anerkannten Flüchtlinge liege konstant bei 0,9 Prozent. Diese Menschen erhielten zwar keine staatliche Unterstützung in Form von Wohnungsvermittlung und sonstiger Unterstützung, aber niemand würde zurückgeschickt, der Arbeitsmarkt könne viele Menschen gebrauchen. Ein weiterer Bericht der Stuttgarter Zeitung zumindest war voll des Lobes für das Bohldammlager. Täglich kämen seit einiger Zeit – der Artikel erschien am 25. September – 120 Menschen aus Berlin in das Lager; wenn man die Atmosphäre der kleinen Lagerstadt verspüre, frage man sich, warum nicht noch mehr hierher kämen, unter den Ankommenden sei keine Panik zu vermerken. „Das Aufnahmeverfahren ist in Uelzen in sechs oder sieben Tagen erledigt, in Berlin dauert es 21 Tage. Es wird so schnell, exakt, höflich und korrekt abgewickelt, dass die Betroffenen selbst darüber erstaunt sind. Hier sind alle notwendigen und zuständigen Behördenvertreter auf kleinem Raum und in aus reichender Zahl versammelt und ohne zeitraubende und kostspielige Straßenbahnfahrten wie in Berlin zu erreichen“. Nerven und Geldbeutel aller Beteiligten würden erheblich mehr geschont, würden die Uelzer Möglichkeiten stärker genutzt.

Der Autor versuchte nachzuspüren, warum zu diesem Zeitpunkt plötzlich so viele „Intelligenzberufe“ in die Bundesrepublik übersiedeln würden. „Das Fazit der Antworten ıst kurz: weil der Nachwuchs von den Arbeiter- und Bauerfakultäten jetzt vorhanden und bereit ist, die entstandenen Lücken aufzufüllen; damit sind die bürgerlichen und antisozialistischen Kräfte völlig uninteressant für die Zonenmachthaber geworden und werden entsprechend behandelt.“

Anfang Oktober hatte sich die Situation bereits wieder etwas entschärft. Laut Auskunft eines Artikels der AZ vom 7.10.1958 bedauerte Minister Höft zwar die nach wie vor bestehende lange Wartezeit in Berlin, aber mittlerweile kämen nur noch 50 Flüchtlinge nach Uelzen, die innerhalb von sechs Tagen an ihre Bestimmungsorte weitergeleitet werden könnten. Der Minister war der Auffassung, dass die Befragung der Ostbüros und der Besatzungsmächte entfallen könnte, da ohnehin 98 Prozent der Ankommenden anerkannt würden. Die niedersächsische Landesregierung sei entschlossen, trotz der Lage keine Sammellager einzurichten, sondern die Menschen auf die Gemeinden zu verteilen. Die Dramatik um die Aufnahme war damit in ihrer praktischen Durchführung endgültig beendet.

Die Berlin-Krise

Allerdings brachte der Herbst 1958 mit dem Berlin-Ultimatum wieder unruhige Zeiten für die Welt und die beiden deutschen Staaten, die sich bis zum Bau der Mauer hinziehen sollten. Die offene Stadt Berlin war ein ständiges Argernis für die ostdeutsche Regierung, nicht nur weil sie ein Schlupfloch für die vielen Flüchtlinge war, sondern mit Berlin-West hatte die DDR den „dekadenten“ westlichen Lebensstil unmittelbar vor der eigenen Haustür. Der Schutzmacht UdSSR konnte die ständige Abwanderungsbewegung aus der DDR nicht gleichgültig sein, wenn auch hinter der Berlin-Krise weniger die Sorge um den ostdeutschen Bündnispartner als vielmehr die Furcht vor einer westdeutsche Aufrüstung mit atomaren Waffen stand. Chruschtschow beschloss, Berlin als Druckmittel zu benutzen und forderte im November den Abzug der Westmächte aus Berlin, die innerhalb von sechs Monaten zu einer „freien und entmilitarisierten Stadt‘‘ umgewandelt werden sollte.” Auf der Außenministerkonferenz in Genf im Mai 1959 konnte zwar keine umfassende Vereinbarung zur europäischen Sicherheit und zur deutschen Frage erzielt, aber die Krise abgebaut werden; die gegnerischen Nationen saßen wieder gemeinsam am Verhandlungstisch, und Chruschtschow konnte sich „gesichtswahrend‘“ aus der Affäre ziehen.

CVJM | Die Jugendlager in Sandbaostel und Westertimke

In dieser Zeit kehrte auch im Bohldammlager vorübergehend etwas Ruhe ein. 1959 kamen mit 11.523 Flüchtlingen so wenig Menschen wie nie zuvor seit Bestehen des Lagers in Uelzen an. Deshalb konnte wiederum das Lager Friedland entlastet werden, das überfüllt war. Man hatte ständig zwischen 200 und 300 Spätaussiedler, die oft 3 bis 4 Wochen in Uelzen blieben. Bis zum Ende des Jahres waren diese Menschen in das Bundesgebiet weitergeleitet worden und das Bohldammlager mit seinen angeschlossenen Jugendlagern Sandbostel und Westertimke war nicht ausgelastet, sodass es aus Einspargründen Überlegungen einer Zusammenlegung gab. Der Lagerleiter schrieb in einem Entwurf im November 1959, dass Uelzen aufgrund der geringen Zuwanderung aus der SBZ nur zu einem Viertel, Sandbostel zur Hälfte und Westertimke zu einem Drittel ausgenutzt werde. Schon tags darauf wurden diese Überlegungen im niedersächsischen Vertriebenenministerium konkretisiert. Brauner erläuterte hier, dass die Unterbringungsmöglichkeiten in Uelzen gut seien, der CVJM habe sich bereit erklärt, die Betreuung der weiblichen Jugendlichen zu übernehmen. Dies wurde auch als zweckmäßig erachtet, zumal sich die zukünftigen Wohnbaracken der Mädchen neben den Betreuungsräumen des CVJM befinden würden. Als schwierig beschrieb Brauner allerdings die Wohnungslage in Uelzen und damit Unterkünfte für die Betreuer zu finden. Die Pläne wurden umgesetzt und das Mädchenlager Westertimke im Februar 1960 nach Uelzen verlegt, während die männlichen Jugendlichen fortan in Friedland versorgt wurden.

Im Jahr 1961 sollte das Bohldammlager noch einmal durch die politische Entwicklung in den Mittelpunkt geraten, bis dann der Bau der Mauer die Fluchtmöglichkeiten derart beschränkte, dass das Lager damit überflüssig wurde.

Wirtschaftliche Probleme, der zweite Fünfjahres-Plan musste 1959 abgebrochen werden, eine forcierte Kollektivierung der Landwirtschaft, die Berlin-Krise und ein härterer politischer Kurs der SED führte zu einer Krise, dıe eine Flüchtlingslawine auslöste (allein im Juli 30.000 Flüchtlinge). Die DDR verlor ihre Jugend. Auf internationaler Ebene war dem neuen amerikanischen Präsidenten Kennedy im Juni 1961 auf dem Wiener Gipfeltreffen ein neues Ultimatum gestellt worden. Chruschtschow forderte bis zum Jahresende eine Lösung der Berlin-Frage. Mit der Ankündigung Ost-Berlins und Moskaus, dass eine „Friedensregelung unaufschiebbar“ sei, sahen viele Menschen den letzten Zeitpunkt für eine Umsiedlung in den Westen gekommen, auch wenn die Regierung der DDR die Bevölkerung mit gegenteiligen Aussagen zu beschwichtigen suchte.

Der Lagerpfarrer im Notaufnahmelager Uelzen bemerkte in seinem Bericht, dass sich der Zugang von Flüchtlingen in den ersten zehn Tagen des Monats Juli erheblich verstärkt habe. Seien früher im Durchschnitt 140 Flüchtlinge eingewiesen worden, wären es momentan im Durchschnitt 250 täglich. Und die Allgemeine Zeitung aus Uelzen schrieb in ihrer Ausgabe vom 22./23. Juli, dass das Notaufnahmelager bereits überfüllt sei, einige Räume der Mittelschule sollten als zusätzliche Unterkunft bereitgestellt werden. Es gab wegen des großen Zulaufs in Uelzen sogar Überlegungen, das chemalige Jugendlager Sandbostel nochmals zu eröffnen, um die vielen Leute unterbringen zu können. Dies wurde aber letztlich nicht umgesetzt.
Die Berlin-Krise „köchelte bis zum Sommer 1961 vor sich hin, die Nerven der Diplomaten lagen blank, und der Flüchtlingsstrom wuchs zu einer wahren Flut an.“

Mauerbau

Die radikale Lösung des Flüchtlingsproblems wurde durchgesetzt, nachdem Kennedy klargestellt hatte, dass er auf einen Zugang Berlins nicht verzichten, eine Teilung aber nicht unmittelbar die amerikanischen Interessen berühren würde. Er akzeptiert damit eine dauerhafte Teilung der Stadt.
Mit dem Mauerbau wurde die Zuwanderung abrupt beendet, und damit zeichnete sich auch allmählich ein Ende des Notaufnahmelagers in Uelzen ab. Bereits in den Jahren zuvor hatte sich häufiger gezeigt, dass die Lagerkapaziıtäten nur mit „Gastbelegungen“ aufrecht erhalten werden konnten. Zum Ende des Jahres 1961 fand noch eine gewisse „Belebung“ des Lagerlebens durch die Einrichtung eines Ergänzungslehrganges für Abiturientinnen aus der DDR statt. Doch auch damit waren die Kapazitäten des Lagers längst nicht ausgenutzt, sodass es zum 1. März 1963 geschlossen wurde.

Ein Journalist der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung kommentierte abschließend: „Die Heidestadt Uelzen, fast 18 Jahre lang für Millionen Menschen erste Zufluchtsstätte, oft aber auch ein Ort der Tränen und Verzweiflung, wırd nun wieder hauptsächlich das, was sie vor dem Kriege war: Mittelpunkt eines Agrargebietes, in dem vorzügliche Saatkartoffeln gezüchtet werden.“ – Joseph Schmidt, HAZ vom 30./31.03.1961