Interessante Eindrücke über die Einstellung junger westdeutscher Menschen über das geteilte Deutschland und DDR-Flüchtlinge, insbesondere zu ihren Altersgenossen jenseits der Grenze, findet man in den Berichten von Studenten verschiedener norddeutscher Universitäten über ihre Praktika im Bohldammlager, die zwischen 1956 und 1957 im Rahmen eines Jugendarbeitsprogramms vom Akademischen Hilfswerk organisiert worden waren. Die Studenten kamen aus unterschiedlichen Studienbereichen. Es ging hier also nicht um ein Fachpraktikum, sondern die jungen Leute sollten neben der Möglichkeit des Gelderwerbs auch einen Einblick in die Flüchtlingssituation erhalten und damit als zukünftige Akademiker für die besondere deutsch-deutsche Situation sensibilisiert werden.

Nach Beendigung hatten die Studenten einen Bericht über ihre Eindrücke und Erfahrungen zu verfassen. Allgemein auffallend an den Berichten ist, von Ausnahmen abgesehen, die Unkenntnis der Studenten über die Flüchtlingssituation. Viele schienen sich vorher mit diesem Thema nicht beschäftigt zu haben, und einige gaben das auch unumwunden zu. In den vier bis sechswöchigen Praktika wurden die Studenten an allen wesentlichen Stellen eingesetzt, die für einen Flüchtling während seines Aufenthalts von Belang waren.

Hintergrund der Praktika – Die Rolle der StudentInnen

Die Studenten sollten in Kontakt mit den Flüchtlingen kommen, es wird jedenfalls in keinem der Berichte über die Arbeit als Putzkraft, im Küchendienst oder sonstigen Tätigkeiten geschrieben, die man zum Zweck des Gelderwerbs als ungelernte Kraft ausüben könnte.
Die Studenten begannen in der Regel in der Aufnahme, in der Registratur oder im Transportbereich und wurden dann wöchentlich in einen anderen Bereich weitergeleitet. Es folgten noch die Arbeit im Gesundheitsdienst, bei den Wohltätigkeitsorganisationen und der Fürsorge. Sie schienen dort eingesetzt zu werden, wo Arbeit anfiel, die als unerfahrene Person erledigt werden konnte. Sie füllten beispielsweise Formulare in der Registratur aus, gingen Flüchtlingen bei der Ausfüllung ihrer Anträge zur Hand, beaufsichtigten die Kinder in den Fürsorgeeinrichtungen u.s.w. Es mag allerdings sein, dass bestimmte Interessen der Studenten mitberücksichtigt wurden, also ein Medizinstudent noch länger im Gesundheitsdienst arbeitete und ein zukünftiger Pädagoge in der Kinderbetreuung. An einigen Stellen konnten sie wohl eher nur beobachten als mithelfen, was aber sicherlich auch beabsichtigt war.

Insgesamt äußerten sich die Studenten sehr positiv über die Organisation und Leitung des Lagers. Das Lager sei gepflegt und freundlich, die Flüchtlinge würden gut versorgt. Man bemühe sich um sie, sei höflich und versuche während des Aufenthalts ein wenig Abwechslung durch verschiedene kulturelle Einrichtungen und Darbietungen zu verschaffen. Auch über ihren eigenen Aufenthalt meinten die Studenten, dass sie einen guten Einblick erhalten hatten und glaubten, sich daraufhin ein Urteil bilden zu können.

Bei allen Studenten genossen die Spätaussiedler, die in dieser Zeit auch im Bohldammlager betreut wurden, große Sympathie, während die Einstellung zu den Flüchtlingen aus der DDR eher ambivalent war. Die vielen schweren Schicksale von Spätaussiedlern, die die Studenten in persönlichen Lebensläufen geschildert bekamen, erweckte ihr Mitleid und ließ bei ihnen verschiedene Lösungsanregungen entstehen, aber auch gewisse nationale Emotionen wurden bei einigen jungen Leuten wachgerufen. So wurde festgestellt, dass die
Menschen aus den ehemaligen Ostgebieten meist ohne Forderungen, mitunter schon resigniert, in den Westen kämen und „einfach nur Deutsche“ sein wollten. Tapfer trügen sie ihr Schicksal, manchmal müssten die auseinandergerissenen Familien wochenlang in Lagern leben, weil die Gemeinden sich weigern würden, sie aufzunehmen. Diese müssten daher gezwungen werden, den Menschen Arbeit und Wohnraum zu beschaffen. Gerade anhand der jungen Leute, die kaum noch Deutsch beherrschten, werde klar, welche Gefahren aus einer Verzögerung der Wiedervereinigung bestünden, schrieb eine Studentin und dachte dabei wohl an die Grenzen der Vorkriegszeit. Dagegen sahen andere, dass der deutsche Kulturraum in den Gebieten jenseits der Oder-Neiße Linie wohl eher der Vergangenheit angehörte, wobei in diesem Zusammenhang manchmal auch Töne westlicher Zivilisationskritik mit anklangen, oder war es einfach nur eine gewisse verkitschte Verklärung, wenn eine Studentin schreibt:

„Denn hinter den Berichten der Aussiedler von ihren verwickelten und tragischen Erlebnissen, die uns in dieser Nähe stark beeindruckten, sahen wir das Schicksal Deutschlands, wie wir es wohl lange nicht bedacht hatten in unserem gewissen Wohlstand und unserer Sicherheit. Ein wenig beschämt oder auch kritisch stand ich dem optimistischen Glauben dieser Aussiedler, dass ihre Heimat in absehbarer Zeit bestimmt einmal wieder deutsch werden würde, gegenüber. Wir Menschen im Westen haben diesen Glauben ja leider schon beinahe aufgegeben, während sie seinetwillen viele Beschwerden auf sich nahmen. Die Aussiedler wirkten auf mich durch ihre Aufrichtigkeit, Ehrlichkeit und Bescheidenheit und ihre nicht materialistische Einstellung wie Deutsche von altem Schrot und Korn, wie man sie in der westlichen Betriebsamkeit nicht mehr so schnell findet.“

Dagegen stimmen die Berichte der Studenten darin überein, dass der große Teil der Flüchtlinge der DDR nicht aus politischen Gründen, sondern aus wirtschaftlichen oder privaten Erwägungen die DDR verlassen hätten. Während die Studenten bei den Aussiedlern eine Not der Heimatlosigkeit durch die veränderten politischen Verhältnisse sahen, wurden den Flüchtlingen aus der DDR oft egoistische Gründe unterstellt.

Wahrnehmung durch die „Westbrille“

Ein Student schrieb gar, dass einem das Lager manchmal wie eine Schleuse der Sozialfälle erscheinen würde. Viele würden ihre Heimat aus privaten Gründen verlassen, moralisch Schwache nutzten die Gelegenheit, vor der eigenen Unfähigkeit zu fliehen. Auch für Nichtsesshafte, arbeitsscheue und undurchsichtige Menschen bedeute der Westen eine große Versuchung. Viele dieser Menschen seien auch äußerlich verwahrlost, würden fordernd auftreten und seien ohne Dank für die ihnen entgegengebrachte Hilfsbereitschaft.
Einige der Studenten sahen die Verhaltensauffälligkeiten dieser Menschen als Resultat des totalitären Systems in der DDR, das die Menschen dort seelisch zerrüttet habe. Sie stellten dem die Höflichkeit und Hilfsbereitschaft der Lagermitarbeiter gegenüber, die auch notwendig sei, denn das Lager sei der erste Eindruck vom westlichen Leben, den die Flüchtlinge hätten. Die jugendlichen Altersgenossen aus dem Osten betrachteten die Studenten durchaus mit einer gewissen Neugier, aber auch mit Distanz. Mit Schrecken wurden Härtefälle beschrieben, die von der Fürsorgerin betreut wurden. Hierbei handelte es sich ihrer Ansicht nach meist um Streuner und Verwahrloste, die aus zerstörten Elternhäusern kämen und nun ihr Glück im Westen suchen wollten. Viele würden versuchen, sich der Aufsichtspflicht der Fürsorge zu entziehen und keine der Betreuungsangebote annehmen, statt dessen lieber auf der Lagerstraße herumlungern.
Allgemein wurde den östlichen Altersgenossen eine größere Abenteuerlust als den Erwachsenen unterstellt, die sie bewog, in den Westen zu ziehen. Allerdings wurde auch erwähnt und wohl auch damit als akzeptabler Grund anerkannt, dass sich manche Jugendliche in der beruflichen Planung behindert und drangsaliert sahen.” Die besondere Jugendbetreuung wurde von den Studenten auch als notwendig anerkannt, damit die jungen Leute in ihrer „Unerfahrenheit hinsichtlich des westlichen Lebensstils“ nicht abrutschen und damit zu sozialen Problemfällen werden würden.

Intensive Betreuung der PraktikantInnen

Neben ihrer Tätigkeit erhielten die Praktikanten während ihres Lageraufenthaltes eine besondere Betreuung, die sie sichtlich beeindruckte und in allen Berichten erwähnt wurde. So wurden von der Lagerleitung extra Ausflüge an die Grenze organisiert und geleitet. Auf diese Weise sollten die jungen Leute Gelegenheit bekommen, die „Pieck-Allee“ mit eigenen Augen zu sehen und damit die politische Situation des geteilten Landes nochmals zu verdeutlichen. Eine der Studentinnen schrieb darüber beispielsweise, dass dieser Ausflug sehr eindrucksvoll gewesen sei. Sie habe sich gefühlt „wie im ärgsten Feindesland“. Ferner reflektierte sie darauf hin, dass in der Bundesrepublik das Problem der Teilung oft heruntergespielt und verharmlost würde. Die Ahnungslosigkeit und Gleichgültigkeit würde viele Flüchtlinge enttäuschen. Diese Auffassung schien wohl auch innerhalb der Lagerleitung vorzuherrschen, weshalb man sich die Mühe bereitete, diese Ausflüge für die jungen Leute zu organisieren. Man sah hierin eine Möglichkeit, junge Menschen, die später in verantwortungsvollen Positionen arbeiten würden, für das Problem der politischen Teilung und damit auch für die eigene Arbeit zu interessieren.

Die oft harten Urteile der Studenten über die DDR-Flüchtlinge hingen sicherlich auch damit zusammen, dass sie während ihres Aufenthalts bei den karitativen Organisationen die Problemfälle vorgeführt bekamen und sich auch mehr damit beschäftigten. Die vielen unproblematischen Fälle hingegen konnten schnell und lautlos abgewickelt werden. Sie blieben vermutlich schon deshalb bei den Praktikanten viel weniger verhaftet, die damit gewissermaßen „betriebsblind“ waren. Dennoch vermitteln die Ausführungen der Studenten den Eindruck, dass die Spaltung Deutschlands in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre nicht nur politisch, sondern auch gesellschaftlich hingenommen wurde. Die Einstellung gegenüber den Gleichaltrigen aus dem östlichen Teil Deutschlands war alles andere als vorurteilsfrei. Einen Anteil am langsam spürbar werdenden gesellschaftlichen Wohlstand wurde den Zuwanderern nicht ohne weiteres zugestanden. Viele Bürger der Bundesrepublik schienen vergessen zu haben, dass der Erwerb von Wohlstand nicht nur vom persönlichen Erfolg eines Menschen abhängig ist, sondern auch von den sozialen und politischen Umständen, unter denen er lebt.