Zentrale Aufgabe des Lagers war zunächst, die Zuwanderer aufzunehmen und zu versorgen, mit Hilfe des Aufnahmeverfahrens festzustellen, wer die Aufnahme anerkannt bekam und die ausgewählte Gruppe anschließend auf die Bundesländer zu verteilen. Denn das Ziel des Notaufnahmegesetzes, das es umzusetzen galt, war eine Einschränkung der Aufnahme und bessere Verteilung von Flüchtigen aus der DDR. Der ausgewählte Personenkreis sollte ausreichend Unterstützung erhalten, um möglichst schnell in den Lebensund Arbeitsalltag der Bundesrepublik integriert werden zu können. Lagerleiter Brauner stellte in seinem Bericht vom Januar 1952 fest, dass sıch das Gesetz in der kurzen Zeit seines Bestehens bereits bewährt habe. Die Zahl der Zuwanderer insgesamt sei zurückgegangen, wobei der ebenfalls erkennbare Rücklauf der unkontrollierten Grenzübergänger das wichtigere Ergebnis sei. Der Durchlauf im Lager betrage derzeit im Monatsdurchschnitt 250 Personen. Dass sich der Zulauf nicht unbedingt verhindern ließ, wenn sich die Verhältnisse in der DDR änderten, sollte sich aber bald zeigen.

Insgesamt bestand für die Mitarbeiter des Lagers allerdings grundsätzlich das Problem, dass die eine Gruppe von Flüchtlingen per Gesetz privilegiert war, während die andere nicht einfach zurückgeschickt werden konnte. Da das Lager für viele Menschen die erste Anlaufstelle war, hatte es doch zumindest eine gewisse moralische Verantwortung. Durch die Erfahrungen mit der dramatischen Zeit des Jahres 1949 und den Vorkommnissen im Eichenhain wollte die Lagerleitung die Entstehung sozialer Konfliktsituationen in Zukunft vermeiden. Es wurde jedenfalls in den folgenden Jahren bei den Mitarbeiterbesprechungen in schwierigen Situationen immer wieder hervorgehoben, dass so eine Situation nicht wieder entstehen dürfe. Daher suchte man ständig nach schnellen und unbürokratischen Hilfsmaßnahmen auch für abgelehnte Flüchtlinge, die häufig durch die Wohlfahrtsorganisationen ermöglicht werden konnten.
Die vielfach „unorthodoxe“ Arbeitsweise, bei der humanitäre Gesichtsppunkte im Vordergrund stehen sollten, hatte auch Auswirkungen auf den Umgang und den Arbeitsalltag der Mitarbeiter im Lager.

Das Aufnahmeverfahren

Zunächst hatte aber jeder der Neuankömmlinge eine bestimmte Prozedur über sich ergehen zu lassen. Mit der Anmeldung an der Wache wurde zur Orientierung ein Laufzettel ausgegeben. Es folgte die Registrierung und Überprüfung durch die Kriminalpolizei. Schon an dieser Stelle erfolgten Weiterleitungen, z.B. bei Familienzusammenführung oder vorliegender Zuzugsberechtigung. Jeder Zuwanderer erhielt Kontrollkarten, die er für seinen weiteren Weg durch Lager mitzuführen hatte. Dann waren die allgemeinärztlichen Untersuchen sowie die Reihenuntersuchungen zu absolvieren. Anschließend konnte geduscht werden und es folgte der Empfang von Essensmarken und die Einweisung in die Unterkunft. Der Flüchtling hatte sich bei der Barackenaufsicht zu melden, wo auch Decken ausgegeben wurden. Darauf hin mussten sich Arbeitsfähige zum möglichen Arbeitseinsatz innerhalb des Lagers melden. Der Empfang des ärztlichen Untersuchungsberichts und die Abnahme von Fingerabdrücken waren auch zu erledigen, erst danach kam die Vorprüfung an die Reihe, wo die Personalien aufgenommen und die Gründe des Zonenwechsels dargelegt werden mussten. Es folgte die Überprüfung durch die Informationsabteilungen und der britischen Dienststelle.

Dann kam es erst zu dem eigentlichen Aufnahmeverfahren. Im Falle der Ablehnung, gegen die Beschwerde eingelegt werden konnte, wurde eine Bescheinigung ausgestellt, Marschverpflegung und gegebenenfalls eine Fahrkarte ausgestellt. Im Falle der Aufnahme wurde eine Aufnahmebestätigung ausgefüllt. Es folgte eine Vormerkung für die Einweisung in das jeweilige Bundesland und der Empfang der Aufnahmebestätigung. Der Zuwanderer konnte sich Fahrkarten und Marschverpflegungsmarken abholen sowie in Transportlisten eintragen. Die ım Lager vertretenden Ländervertretungen standen für Rücksprachen zur Verfügung. Zuletzt musste sich der Neubürger nochmals ärztlich untersuchen und entlausen lassen und anschließend auf den Aufruf des Transportleiters zur Abreise ın seinen neuen Heimatort warten. Auf diese Art und Weise konnte ein Aufnahmesuchender bis zu 21 Stationen durchlaufen, bis er letztlich über seinen weiteren Lebensweg im Klaren war. Die bürokratische und oft langwierige Prozedur verursachte mitunter eine lähmende Atmosphäre des Lageralltags.

Entscheidungsfindungen zum Aufenthaltsrecht

Auch wenn es sich beim Lager in Uelzen um ein Durchgangslager handelte und der Aufenthalt ım Schnitt nur einige Tage betrug, 1957 lag der durchschnittliche Aufenthalt im Lager bei 6 Tagen, konnte dieser sich doch mitunter ausdehnen, z.B. in Zeiten, wenn der Andrang besonders groß war, bei Erkrankung des Antragstellers oder Widerspruch eines abgelehnten Antrages.
Entscheidend war natürlich, ob man als politisch verfolgt anerkannt, auf dem Ermessenswege ein Aufenthaltsrecht zugestanden bekam oder gar abgelehnt wurde. Bei den Mitgliedern der Untersuchungsausschüsse sollte es sich auch um besonders versierte und erfahrene Beamte handeln, die bei den vielen individuellen Schicksalen herauszufinden hatten, wo es, sich um politische Verfolgung oder persönliche Entscheidung handelte. Allerdings waren weder die Ausschussmitglieder „objektiv“ noch waren die Aufnahmekriterien all die Jahre konstant gleich. So nahm die Zahl der Aufgenommenen im Laufe der Jahre ja auch zu Konnte in den ersten Jahren Aufnahme auf dem Ermessensweg beispielweise erteilt wer. den, wenn der Aufnahmesuchende eine Arbeit nachweisen konnte, reichte es ab 1957 aus, wenn er darlegen konnte „nicht dauernd hilfsbedürftig“ zu sein. Die Art und Weise des Aufnahmeverfahrens war insgesamt problematisch. Hier hatte man über persönliche Schicksale zu entscheiden und dabei herauszufinden, ob die Darstellungen auch der Wahrheit entspra. chen. Dies war in den Zeiten des Kalten Krieges ein höchst empfindlicher, mitunter fast hysterisch gehandhabter, Bereich. Der zu Überprüfende konnte gegebenenfalls nicht nur Opfer, sondern auch „Täter“ sein. Hinzu kam, dass Deutschland West und die dahinter stehenden Alliierten vermutlich genau so an den Vorgängen in Deutschland Ost interessiert waren wie umgekehrt.

Allerdings schien die Tätigkeit der zuständigen Überwachungsstelle des Bundes, zumindest anfangs, nicht unbedingt auf Zustimmung der anderen Lagermitarbeiter gestoßen zu sein. Lagerleiter Brauner ließ gar Erkundigungen über die Beamten einholen, immerhin arbeiteten sie mit Decknamen, und beschwerte sich bei seiner vorgesetzten Behörde über Tätigkeit als auch Auftreten dieser Mitarbeiter. So befürchtete er, dass die Flüchtlinge überfordert würden, indem sie durch eine „Vernehmungsmühle“ gedreht würden, da ja auch noch das Intelligence Team und die Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit Militante antikommunistische Organisation, die von 1949 – 59 bestand und zeitweise im Lager vertreten war. Befragungen durchführen würden. Dass dieses Personal besser bezahlt würde, zudem noch seine Schreibkräfte von außerhalb mitbringen würde, würde sich im Lager herumsprechen. Das „falsche und arrogante Auftreten der Herren“ erschwere die Zusammenarbeit zusätzlich.

Brauners Beschwerde war an das Bundesministerium weitergeleitet worden, in Hannover schien man auch zu überlegen, ob die Befragungen überhaupt eine Rechtsgrundlage besaßen. Das ging zumindest aus dem Antwortschreiben des Bundesvertriebenenministerium hervor. Es wurde hervorgehoben, dass die Befragungen zwecks Information des Ministeriums über Zustände und Vorgänge in der sowjetischen Zone erfolgen würden, soweit sie den in Uelzen durchgeschleusten Personen bekannt seien. Sie habe aber nichts mit der Überprüfung der Antragssteller und ihres Aufnahmegesuches zu tun. Als reine Vorsichtsmaßnahme würden die vier Herren und Schreibkräfte mit Decknamen arbeiten. Es wurde eingestanden, dass die Flüchtlinge „überfragt“ würden.

„Auf die von Ihnen angeschnittene Frage nach der Rechtsgrundlage der Befragung, muss ich Ihnen antworten, dass sie sowenig besteht wie bei sonstigen informatorischen Vernehmungen. Es wird deshalb auch kein Flüchtling zu irgendeiner Aussage gezwungen.“

Bundevertriebenenministerium an das nds. Vertriebenenministerium vom 25.07.1950

Rudi Schrödter erinnert sich

Uelzens ehemaliger Bürgermeister Rudi Schrödter stellt seine Erfahrungen mit dem Aufnahmeverfahren aber anders da. Schrödter war geborener Uelzener, der aber nach dem Krieg nach Mecklenburg-Vorpommern zu seiner späteren Frau umzog, die er dort während seiner Fliegerausbildung kennen gelernt hatte. Als gelernter Bankhandelskaufmann war er offensichtlich erfolgreich, zunächst in einem Unternehmen, das Schmuck herstellte, bis man auch von „höherer Stelle“ auf ihn aufmerksam und er mit in die Leitung der ehemaligen Rostocker Flugzeug-Werke aufgenommen wurde. Seine Karriere nahm ein jähes Ende, als er offene Kritik an der Wirtschaftsführung äußerte.

„Der Bruch kam mit dem Aktivistenplan. Ich hatte die Pläne von Halle als Quatsch tituliert. Wir als anerkannte Rostocker wurden dann zur nächsten Konferenz nach Halle eingeladen, auf der ich den Vortrag halten sollte. Ich habe den Pumpenwerk-Aktivistenplan zur Sau gemacht, dass man das so nicht machen könne. Alles hat geklatscht, zunächst. Nach dem Mittagessen kam der große FDGB-Chef und meinte, dass man einen „Rostocker Weg“ nicht zulasse. Denn die Hallenser Pumpenwerke hatten den Plan gar nicht selbst gemacht, der kam von Moskau! So hatte ich die große Sowjetunion beleidigt.“

Schrödter führte weiter aus, dass er nach seiner Flucht zunächst weder in Berlin noch in Uelzen eine Anerkennung als politischer Flüchtling erhalten habe, da er sich geweigert habe, Auskunft über seine Tätigkeit als leitender Angestellter der ehemaligen Rostocker Flugzeugwerke zu erteilen.

„Jeder, der kam, musste Auskunft geben, was er gearbeitet hatte u.s.w. Ich musste, auch als ich hier in Uelzen war, zum Engländer in die Alewinstraße. Die wollten wissen, was in Ribnitz für Flugzeuge standen. Ich habe von vorherein gesagt, ich habe politisch gearbeitet, aber Spionage kommt für mich nicht in Frage… In den Aufnahmelagern sind die Leute erpresst worden. Und wenn man nicht aussagte, bekam man keinen C-Schein… Wenn sie geprüft wurden, ob sie politischer Flüchtling waren. Wenn nicht, hatten sie keine Arbeit und keine Wohnung, waren praktisch vogelfrei. Ich hatte ja keine Schwierigkeiten, weil ich bei meinen Eltern wohnen konnte. Aber wenn ich etwas wollte, brauchte ich einen Aufnahmeschein, und den kriegte ich nicht. Die verlangten immer wieder Aussagen. Ich war in der Geschäftsführung und hatte mich verpflichtet, fünf Jahre nichts über die Firma auszusagen. Das gibt es hier auch, und ich dachte nicht daran, etwas darüber auszusagen. „Ja, dann nehmen wir Sie nicht auf!“… Die Aufnahme erhielt ich durch Glück und Mithilfe von Dr. Roland, Syndikus vom Landkreis. Ich war mittlerweile bei der GWK. Ich wollte gerne bauen und dafür konnte ich den C-Schein gebrauchen. 4.500 DM war viel Geld damals. Der Roland hat in Lüneburg die ganze Sache aufgerollt und gedroht, die Sache vor Gericht zu bringen. Die Lüneburger haben daraufhin den Schein ausgefüllt, und ich habe mein Darlehen er bekommen. Das war ungefähr 1955.“

Illegale Zuwanderung

Abgewiesene wurden nicht in die DDR zurückgeschickt, außer wenn sie sich strafbar gemacht hatten. Sie hatten aber keinen Anspruch auf besondere staatliche Unterstützungsmaßnahmen, wie sie den anerkannten Flüchtlingen und Vertriebenen zugestanden wurden. Vor allem hatten sıe keinen Anspruch auf bewirtschafteten Wohnraum, sondern waren auf unbewirtschafteten Wohnraum angewiesen, was in dieser Zeit, wo freie Wohnungen kaum zu finden waren, ein besonders schwerer Nachteil war. Die Bemühung um Arbeit war nicht verboten. Polizeilich gemeldete illegale Zuwanderer, die im Besitz eines Personalausweises waren, konnten die Vermittlung der Arbeitsämter in Anspruch nehmen. Eine polizeiliche Meldung und der Erhalt des Ausweises – mit Eintrag ‚illegal‘ – hatte im Falle eines Wohnungsbezuges zu erfolgen. Im Falle der Hilfsbedürftigkeit konnte man Unterstützung von den Wohlfahrtsbehörden nach den Richtlinien der Fürsorgepflichtverordnung erhalten.

Als ein Beispiel dafür, welche Härte eine Ablehnung nach sich ziehen konnte, soll hier das Schicksal eines abgewiesenen Flüchtlings zitiert werden, der 1953 mit seiner Familie über die Grenze kam und Folgendes im Notaufnahmelager Uelzen zu Protokoll gab:

„Am 27.2.1953 bin ich mit meiner Familie, bestehend aus Ehefrau und zwei Kindern im Alter von fünf und sechs Jahren bei Vacha-Philippstal illegal in das Bundesgebiet eingereist. Ich begab mich sofort in das Notaufnahmelager Gießen und stellte einen Antrag auf Annahme in das Bundesgebiet, der mir doch in beiden Instanzen abgelehnt wurde, da ich meine Angaben nicht beweisen konnte. Das war am 4.3.1953. Von Gießen aus fuhr ich zu meiner Mutter nach Grimmenplan bei Alfeld, wo ich circa acht Tage verblieb. Meine Mutter konnte mich mit meiner Familie nicht länger behalten, da sie selbst Flüchtling ist und mit meinem Bruder eine Wohnküche und ein Schlafzimmer bewohnt. Zwei Monate versuchte ich in verschiedenen Städten Nordrhein-Westfalens Fuß zu fassen, was aber nicht gelang. In Göttingen kam ich am 17.4.1953 an und wurde vom städtischen Sozialamt in das Übernachtungsheim eingewiesen.
Das Übernachtungsheim ist nur von abends 19.00 bis morgens 8.00 Uhr geöffnet. Tagsüber musste sich meine Frau mit den Kindern auf der Straße bzw. in den Parkanlagen aufhalten. Bei Schlechtwetter war meine Frau gezwungen, den Bahnhofswartesaal oder die Kaufhalle Karstadt aufzusuchen, während ich selbst durch Gelegenheitsarbeiten wie Gartenumgraben, Zäune ausbessern und Holzhacken den Lebensunterhalt für meine Familie und mich aufzubringen suchte. Neben meinem Lebensunterhalt musste ich noch 45 DM Miete für die stundenweise Unterkunft und 15 DM Kaffeegeld monatlich bezahlen. Als es mir nicht mehr gelang, das Geld aufzubringen, meldete ich mich arbeitslos und bekam am 19.6.53 wöchentlich 54,60 DM Arbeitslosenunterstützung. Nachdem ich des öfteren bei den verschiedenen Ämtern wie Wohnungsamt, Sozialamt und Gesundheitsamt vorstellig geworden war, da meine Frau im achten Monat schwanger ist, legte man mir nahe, mich mit meiner Familie in das Notaufnahmelager Uelzen zu begeben und um Aufnahme anzusuchen.
Herr Stadtinspektor Jando vom Sozialamt Göttingen gab mir Freifahrtscheine für vier Personen nach Uelzen. In Uelzen traf ich am 24.11.53 ein, wurde im Lager aufgenommen und reichte ein Notaufnahmeverfahren ein. Zur Zeit ist mein Fall vertagt, da die Akten in Gießen angefordert werden mussten.“