Einer Gruppe unter den Flüchtlingen, der große Aufmerksamkeit zuteil wurde, war die der jugendlichen Flüchtlinge. Dies lag vor allem daran, dass sie unter den Flüchtlingen insgesamt einen großen Prozentsatz bildete. Da viele dieser jungen Leuten wegen des Krieges oder seiner Folgen ohne oder aus zerstörten Familien kamen, galten sie als eine Problemgruppe, für die eine besondere Verpflichtung bestand.

Im Laufe der fünfziger Jahre wurden noch weitere Bedenken in die Diskussion eingeführt, und zwar die Gefahr der politischen Indoktrination, der diese Jugendlichen in der DDR jahrelang ausgesetzt gewesen seien und der es jetzt entgegenzuwirken galt, um die jungen Leute „fit“ für ein Leben in der Bundesrepublik zu machen.

Das Notaufnahmegesetz berücksichtigt Erfahrungen mit jugendlichen Flüchtlingen

Das Notaufnahmegesetz zog Konsequenzen aus den bisherigen Erfahrungen mit dem großen Anteil jugendlicher Flüchtlinge. Die Jugendlichen waren auch nach einem Schlüssel weiterzuverteilen, allerdings in einem gesonderten Verfahren, der den Anforderungen einer jugendfürsorgerischen Betreuung genügen und durch die Einrichtung gesonderter Jugendlager erfolgen sollte. So sollte jugendlichen Antragsstellern bis 24 Jahren unter dem Gesichtspunkt der besonderen Fürsorge auf dem Ermessungswege eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden können, um ihnen ein Leben in der Illegalität zu ersparen. Nach ihrer Weiterleitung sollten die Jugendlichen noch weitere Betreuung durch die örtlichen Jugendämter erhalten.

Bereits 1948 hatte Niedersachsen auf den jugendlichen Zulauf aus der sowjetisch besetzten Zone reagiert und mit dem Jugendlager in Poggenhagen – in eigener Zuständigkeit – eine staatliche Auffangstelle für jugendliche Zuwanderer geschaffen, das 1950 mit dem Lager in Loccum erweitert wurde. Da sich die Lager auch mit einer zusätzlichen Stelle in Kirchrode als unzulänglich erwiesen hatten, wurden sie 1952 aufgelöst und statt dessen war das Lager Sandbostel für männliche Jugendliche und einer Aufnahmekapazität von 800 Personen sowie das Lager Westertimke für Mädchen, das 450 Personen aufnehmen konnte, eingerichtet worden. Nach Inkrafttreten des Notaufnahmegesetzes wurden die Jugendlager zu Nebenlagern des Bohldammlagers, d.h. nach Ankunft in Uelzen wurden die Jugendlichen nach einigen Tagen in die für sie vorgesehenen Lager weitergeleitet. Die Jugendlager sollten zielgruppengerechte Maßnahmen in Gang setzen. Beispielsweise wurde das in der DDR abgelegte Abitur in der Bundesrepublik nicht anerkannt; die Jugendlichen sollten die Möglichkeit erhalten, das westdeutsche Abitur nachzuholen.

Die Lager wurden 1960 aus Einsparungsgründen aufgelöst, junge Männer wurden fortan in Friedland versorgt, Westertimke nach Uelzen verlegt. Allerdings hatte man auch in den Jahren zuvor organisatorisch eng zusammengearbeitet. So wurde beispielsweise nicht nur die Wäsche der Jugendlager in der Wäscherei des Bohldammlagers gewaschen, sondern die Mitglieder der Ausschussverfahren waren auch für die Jugendlager mit zuständig.

In Uelzen erfolgte eine Vorprüfung der Jugendlichen. Sie wurden einer Gesundheitsuntersuchung unterzogen, und es sollte vor allem in Erfahrung gebracht werden, aus welchen Gründen die jungen Leute nicht mehr in der DDR leben wollten. Dabei galt den Minderjährigen eine besondere Aufmerksamkeit, denn der Versuch der Rückführung der Minderjährigen in das Elternhaus wurde als wichtigste Aufgabe angesehen. Allerdings war dies aufgrund der Umstände manchmal etwas schwierig, so sollten Eltern gegebenenfalls „verdeckt“ befragt werden. Außerdem wollte man die Jugendlichen nicht gegen ihren Willen zurückführen oder sogar riskieren, dass diese sich vorher „absetzten“ und danach auf die schiefe Bahn gerieten. Deshalb hatte Lagerleiter Brauner bereits 1953 angeordnet, dass sämtliche das Lager anlaufenden Jugendlichen unter 18 sofort bei Ankunft der Gesundheitspflegerin Hertha Schwerdtfeger zu melden seien. Um zu vermeiden, dass diese Jugendlichen flüchtig würden, sei eine beschleunigte Vorprüfung und schnelle Weiterleitung nach Sandbostel bzw. Westertimke dringend erforderlich. Für die älteren unter den jungen Leute wurde versucht, die Eingliederung ın den Beruf bzw. Fortführung der Ausbildung oder des Studiums, finanzielle Unterstützungsmöglichkeiten u.s.w. zu sondieren, und amtliche Bescheinigungen für Arbeits- und Unterkunftsmöglichkeiten zu beschaffen, die dann zur weiteren Klärung in den Jugendlagern notwendig waren.

Kritik an der Aufenthaltsdauer in der Lagern

Ein Kritikpunkt bei der Betreuung der ostdeutschen jugendlichen Flüchtlinge, der schon frühzeitig artikuliert wurde, war die häufig vertretene Ansicht, dass die Jugendlichen zu lange in den Lagern festgehalten würden und damit eine Eingliederung in den Alltag erschwert würde. So wurde im Sommer 1952 während einer Besprechung in Sandbostel von Vertretern der Landesfürsorgeverbände Nordrhein und Westfalen vorgebracht, dass in den letzten Monaten zahlreiche herumstreunende Jugendliche aufgegriffen worden seien. Diese seien durch die Jugendlagergruppe gegangen und hätten sich dort im Schnitt vier bis acht Wochen, manche aber auch drei Monate aufgehalten. Ein zu langer Lageraufenthalt sei nachteilig, ja sogar schädlich. Der Leiter der Jugendlagergruppe schien eine ähnliche Einschätzung zu teilen, denn er berichtete von der erfolgreichen Erprobung eines Projektes im Mädchenlager, das auch demnächst in Sandbostel ausprobiert werden sollte. So erfolge sofort bei Ankunft der Jugendlichen eine Sichtung von erfahrenen Jugendpflegern, nach der die „grobklaren“ Sozialfälle in ein Heim eingewiesen würden. Diejenigen aber, bei denen eine sofortige Arbeitsvermittlung möglich sei, würden ausgesondert und kämen nicht mehr in ein Betreuungslager. Die Vertreter aus Nordrhein-Westfalen erklärten sich bereit, die anfallenden Heimkosten zu übernehmen, vorausgesetzt, dass die Heimbetreuung in Nordrhein-Westfalen erfolge. Der Uelzener Lagerleiter ging noch auf die kritisierte Aufenthaltsdauer ein und wies in diesem Zusammenhang auch auf bürokratische Maßnahmen hin, die den Verbleib im Lager verlängern würden, von ihm aber nicht beeinflussbar sei. Brauner erläuterte, dass der Aufenthalt in Uelzen bei den männlichen Jugendlichen circa fünf Tage betrage und kaum reduziert werden könne, da in dieser Zeit auch die Befragungen der verschiedenen Stellen, so auch der britischen Behörde, erfolge. Bei den Mädchen betrage der Aufenthalt acht Tage und könne herabgesetzt werden, wenn günstigere Transportgelegenheiten nach Loccum geschaffen würde. Bisher ginge einmal wöchentlich ein Transport nach Loccum.

Die Leiter der Jugendgruppen beklagten ferner, dass es mitunter zu erheblichen Verzögerungen käme, wenn die erforderlichen Papiere aus Berlin manchmal erst drei Wochen nach Ankunft des Flüchtlings hinterher geschickt würden. Gerade bei den Gesundheitsunterlagen könnten daraus gesundheitsgefährdende Situationen entstehen, wenn kranke Jugendliche aus Unwissenheit in den normalen Unterkünften untergebracht würden.
auch wenn von den Lagermitarbeitern, vielleicht aus Gründen des Selbstschutzes, beklagt wurde, dass aufgrund diverser bürokratischer Maßnahmen die Jugendarbeit eher behindert als gefördert würde, herrschte dennoch allgemeiner Konsens darüber, dass den jungen Leuten ausreichend Gelegenheit gegeben werden musste, sich in der Bundesrepublik einzuleben, handelte es sich bei dieser Gruppe schließlich um noch nicht ausgereifte Persönlichkeiten, für die man anerkanntermaßen noch gewisse erzieherische Pflichten auszuüben hatte, damit sie in ihrer Unerfahrenheit nicht womöglich den vielen Verlockungen erliegen und, letztlich davon frustriert, sich vom westlichen System abwenden würden. Dabei wurde unterstellt, dass die Jugendlichen aus Ostdeutschland insgesamt labiler und stärker beeinflussbar waren als ihre westlichen Altersgenossen. Diese Einschätzung schien auch außerhalb des Lagers verbreitet zu sein. So äußerte z.B. ein Student, der im Bohldammlager 1961 ein Praktikum absolviert hatte, in seinem abschließenden Tätigkeitsbericht große Sorgen über den vermeintlichen Unterschied zwischen östlicher und westlicher Jugend. Er war der Auffassung, dass dies ein zentrales Problem sei und sich die Kluft zwischen West und Ost immer mehr vergrößere. Der junge Mensch aus der DDR sei es nicht gewohnt, in Freiheit zu leben, sei zurückgezogen aus Spitzelangst und wisse in seiner Freizeit häufig nichts mit sich anzufangen, die man ja hier selbstständig organisieren müsse. Oft sei er beruflich sehr ehrgeizig, da er ja noch alles anschaffen müsse, wodurch er zur Konkurrenz seiner Kollegen werde.

Zweijahresplan für die Eingliederung der Geschädigten

Mit Hilfe der Jugendlager, die gezielte Maßnahmen für die Jugendlichen in Gang setzen sollten, wurde die schnelle Integration in den bundesdeutschen Alltag angestrebt. Da die Jungen Leute unter 25 auf dem Ermessenswege aufgenommen wurden, stand ihnen damit zwar keine bevorzugte Arbeitsvermittlung zu, aber wegen der guten Berufschancen dieser Altersgruppe stellte dies längerfristig kein Problem da. Eine größere Gefahr wurde eher darin gesehen, dass die Unerfahrenheit der Jugendlichen ausgenutzt und sie möglicherweise als billige Arbeitskräfte missbraucht werden könnten, was im Extremfall zu einer asozialen oder kriminellen Lebensweise führen könnte. Allerdings rückten solche Einschätzungen im Verlauf der fünfziger Jahre mit dem Anwachsen des wirtschaftlichen Wachstums und dem Entstehen der Nachfrage nach Arbeitkräften zunehmend in den Hintergrund. Und die Jungen Leute kamen. Sie kamen sogar verstärkt in Zeiten, in denen die allgemeinen Zahlen rückläufig waren. So gingen beispielsweise zwischen 1951 und 1952 die Flüchtlingszahlen in Uelzen wegen der Errichtung des Sperrgürtels in der DDR zurück, während insgesamt die Zahl der jugendlichen Flüchtlinge weiter anstieg.

Dem hohen Anteil jugendlicher Flüchtlinge wurde u.a. dadurch Rechnung getragen, dass 1953 ein eigenes Referat für die Betreuung jugendlicher Zuwanderer im Bundesvertriebenenministerium eingerichtet wurde. Auch der, durch die Ereignisse des Jahres bewirkte, im Herbst 1953 vom Ministerium erstellte und im Oktober 1954 überarbeitete Entwurf eines „Zweijahresplans für die Eingliederung der Geschädigten“ sah neben dem Wohnungsbau vor allem Hilfsmaßnahmen für jugendliche Flüchtlinge vor. Dabei stand die Ausbildungsförderung im Vordergrund, die 1956 intensiviert wurde. Denn der Trend hielt weiter an. Ein Zeitungsartikel aus dem Jahr 1957, der sich mit diesem Thema beschäftigte, stellte fest, dass seit 1949 durchschnittlich 52 Prozent der Antragsteller Jugendliche im Alter bis zu 25 Jahren gewesen seien und 27 Prozent Menschen im Alter von 25 bis 45 Jahren. Und Bundesvertriebenenminister Oberländer hatte bereits 1955 darauf hingewiesen, dass die Zahl der zugewanderten Jugendlichen etwa die Hälfte der Flüchtlinge ausmachen würde und daher besondere Aufmerksamkeit erfordere. 70.000 seien im Jahr 1955 gekommen, neben den 120.000, die mit ihren Familien in die Bundesrepublik kamen. Man habe, so erklärte und betonte der Minister, bisher mit diesen Jugendlichen nur positive Erfahrungen gemacht.

„Sie gehören zu den überdurchschnittlichen Begabungen, den anständigen, aufgeschlossenen Kräften. In der Tatsache, dass diese Jugend 10 Jahre lang dem sowjetischen Einfluss ausgesetzt war, sehe ich keine Gefahr.“

Die Zone würde diese Ausblutung bald merken. Es wäre wohl besser, wenn diese Jugend als „Kräfte des Widerstands“ drüben wirken würde, aber der Druck des Systems wäre hart.

„Für uns ist Asylrecht zugleich Asylpflicht.“

Der Minister verteidigt also die jugendlichen Zuwanderer, indem er die Integrationsfähigkeit der Jugendlichen betont und als erfolgreich einschätzt. Damit wird aber auch deutlich, dass die Zunahme der „Neubürger“ nicht nur positiv aufgenommen wurde. So vergisst er ebenfalls nicht darauf hinzuweisen, dass in der Regel die „Besten“ den ungeliebten zweiten deutschen Staat verlassen würden. Gleichzeitig betont er, wie häufig von Regierungsseite, dass sich eine Wiedervereinigung Deutschlands besser durch aktiven Widerstand innerhalb der DDR als durch passiven in Form des Verlassens erreichen ließe.

Dennoch schwingt neben der Sorge um die jungen Leute auch ein gewisses Misstrauen ihnen gegenüber mit, ob sich dieser große Schwung junger Menschen möglicherweise nicht doch zum „gefährdenden Potential für die innere Sicherheit“ entwickeln könnte.

Die Integration der jungen Frauen

Die Integration der jungen Frauen bereitete den verantwortlichen Stellen wohl größere Sorgen als die der Männer, was aber eindeutig mit dem Frauenbild der fünfziger Jahre zusammenhing. So waren in der Presse häufiger Artikel aufgetaucht, in denen geklagt wurde, dass die Jugendlichen aus den Lagern heraus abgeworben wurden, um in der Landwirtschaft als billige Arbeitskräfte oder gar, im Falle der Mädchen, in „zwielichtigen Milieus“ ausgenutzt zu werden. Dagegen hatte sich u.a. der niedersächsische Vertriebenenminister 1958 verwahrt, der in diesem Zusammenhang erläuterte, dass zur Betreuung der jungen Leute auch die Überwachung der Gaststätten in der Umgebung der Lager gehöre, wie auch allgemein die Einhaltung des Jugendschutzes. Man bemühe sich, die Jugendlichen nach Möglichkeit gar nicht aus den Lagern herauszulassen, indem man versuche, eigene interessante Unterhaltungsprogramme zu gestalten. Er gebe aber zu bedenken, dass die jungen Leute nach DDR-Recht bereits mit 18 Jahren volljährig seien.

Solcherlei Befürchtungen, dass sich die jungen Leute durch ihre Unerfahrenheit und Vergnügungssucht in Gefahr bringen könnten, wurde auch als Einwand gegen dıe Verlegung des Mädchenlagers nach Uelzen vorgebracht. Mit der Auflösung der Jugendlager Anfang 1960 wurde kritisiert, dass die Mädchen in dem etwas abgelegenen Lager Westertimke besser kontrollierbar gewesen seien, während sie in Uelzen den Verlockungen des Stadtlebens ausgesetzt seien. Junge Leute aus dem Osten würden den westlichen Freizeitangeboten viel eher erliegen und seien zudem allzu oft leichte Beute unseriöser Arbeitgeber, befürchtete man auch von gewerkschaftlicher Sceite. Gerade die jungen Mädchen seien „moralisch und sittlich viel stärker gefährdet“, und schon in Westertimke sei manch Inhaber zweifelhafter Vergnügungsetablissements aufgetaucht, der viel Geld für leichte Arbeit versprochen habe. Nur aufgrund des unermüdlichen Einsatzes der Fürsorger sowie der ungünstigen Lage der Jugendlager sei es zu verdanken, dass diese Übelstände bisher meist abgewendet werden konnten.” Die Gerüchte um „Mädchenhandel“ hielten sich aber hartnäckig. So war in einem Artikel der HAZ aus dem Jahr 1960 zu lesen, dass es in Uelzen keinen Mädchenmarkt gebe, aber sieben Wochen im Durchgangslager seien zu viel, wurde kritisiert. Die Aufregung um die Mädchen war wohl verursacht worden, weil man Mädchen aus dem Lager zur Faschingszeit in dem Nachtlokal „Oase“ beobachtet habe.

„Darf man die Jugend anklagen?“

Allgemeine Übereinstimmung herrschte darüber, dass die Jugendlichen Unruhe in die Lager brachten. Mitverantwortlich für die Betreuung der Jugendlichen im Lager Bohldamm war Fürsorgerin Herta Schwerdtfeger, die seit 1949 im Lager angestellt war. Die Sozialfürsorgerin kümmerte sich um die „schweren Fälle“, so war sie mit eingebunden in die Fürsorge der Geschlechtskranken, verwahrlosten Kinder und Jugendlichen, nichtverheirateten jungen Mütter u.s.w. Hertha Schwerdtfeger hatte 1953 gar eine Denkschrift mit dem Titel „Darf man die Jugend anklagen?“ verfasst. Grundlage ihrer Untersuchung bildeten 375 „auffällig“ gewordene Mädchen und Frauen (unverheiratet bis 30 Jahre) des Lagers. Unter Auffälligkeit verstand die Fürsorgerin in erster Linie wohl Geschlechtskrankheiten und Schwangerschaft, aber auch Anzeichen von Verwahrlosung. Sie stellte u.a. fest, dass bei den Betroffenen meist keine politischen Beweggründe vorlagen, ihre Heimat zu verlassen. Die Ursache für die „Haltlosigkeit‘“ der Frauen sah sie im Atheismus der DDR.

„Triebhaftigkeit ohne Lebensethos ist die Folge des Mangels an Religion. Dieser Zersetzungsprozess findet sich auch in der Ansicht über die Heiligkeit der Ehe wieder. Täglich erlebe ich, dass Frauen drüben in der SBZ einfach aus den Pflichten ihrer Ehe davongelaufen sind.“

Im Atheismus des Staates, der zudem die Gleichberechtigung der Frau propagiere, was u.a. in der Berufstätigkeit der Ehefrau ausgedrückt werde, sei die Ursache für die Zerstörung der Familie und damit für die Entstehung all der Sozialfälle zu sehen. An der Beurteilung der Familienpflegerin wird besonders deutlich, dass hier ein konservatives Wertesystem verteidigt werden soll, das sie von der DDR bedroht sah.

Die Fürsorgerin war u.a. dafür zuständig, mögliche Infektionsquellen der Angesteckten zu ermitteln, um sie in die Behandlung einzubeziehen zu können. Allerdings betonte der im Notaufnahmelager Uelzen tätige Facharzt, Dr. Kunad, in einem Artikel über die Verbreitung ansteckender Krankheiten aus dem Jahr 1951, dass es entgegen Behauptungen in der Öffentlichkeit, vor allem der Presse, unter den Jugendlichen keine besonders starke Verbreitung luetischer Erkrankungen gebe. Damit wird erkennbar, dass die Fürsorgerin mit ihrer Einstellung nicht allein dastand. Vorurteile und Klischees gegenüber dem kommunistischen Feindbild, vor dem man die eigene heile bürgerliche Welt zu schützen habe, wurden politisch genutzt und instrumentalisiert. Mit gewissem Erfolg, denn nicht ohne Grund lautete der Wahlkampfslogan der CDU 1957, mit dem sie letztlich die absolute Mehrheit errang: „Keine Experimente wagen“.

„DDR-Vergangenheit“ als Makel

Der westdeutsche Antikommunismus war einer der gesellschaftlichen Bausteine der jungen Bundesrepublik. Auch wenn DDR-Flüchtlinge insgesamt vielleicht nicht auf soviel Ablehnung stießen wie die Vertriebenen in den ersten Nachkriegsjahren, sie fielen schon zahlenmäßig nicht so ins Gewicht, waren solcherlei Vorurteile dennoch nicht unbedingt hilfreich für den Neubeginn in der Bundesrepublik. So erzählt beispielsweise Rudi Schrödter, dass er anfangs große Schwierigkeiten hatte, in Uelzen eine Arbeit zu finden, da ihm seine „DDR-Vergangenheit“ zu Last gelegt wurde.

Natürlich gab es auch Überlegungen über die Zeit nach dem Lager und immer wieder Klagen darüber, dass die jungen Leute sich zu stark selbst überlassen würden. 1956 gab es ım niedersächsischen Kultusministerium Äußerungen hinsichtlich der Integrationsschwierigkeiten jugendlicher Flüchtlinge, mit dem Ziel, sich in Zukunft stärker um die Betreuung der ostdeutschen Jugendlichen bemühen zu wollen. So habe eine Umfrage der Jugendlagergruppe Sandbostel ergeben, dass weitere Bemühungen notwendig seien. Die Jugendlichen hätten zwar in der Regel Arbeit, seien aber meist ohne menschliche Anbindung, sodass sie in eine Vereinsamung gerieten, die das Einleben nicht nur erschwere, sondern oft auch unmöglich mache.

„Enttäuscht, verbittert oder sogar als Feinde der Demokratie und einer freiheitlichen Gesellschaftsordnung kehren sie in die SBZ zurück.“

Auch wenn es sich nur um eine Minderheit von Rückwanderern handeln konnte, war es dennoch eine Frage des Prestiges, der Überlegenheit des westlichen Systems, dass man sich so besorgt zeigte über mögliche Rückkehrer. So wurde etwa von Seiten des niedersächsischen Kultusministeriums darauf verwiesen, dass etwa 50° o der aufgenommenen Jugendlichen keine Betreuung erhielten. Dabei sei darauf aufmerksam zu machen, dass 1955 etwa 32.000 Jugendliche im Notaufnahmeverfahren in die Bundesrepublik aufgenommen worden seien. In den Jugendlagern seien monatlich im Schnitt 2.670 Jugendliche, von denen in Niedersachsen etwa 130 Personen eingewiesen würden. Es sei also erforderlich, dass in Zukunft auch die Jugendämter, Mitglieder der Jugendwohlfahrtsausschüsse und die Jugendpfleger sich mehr um die Jugendlichen bemühen müssten. Persönlicher Kontakt seitens der Wohlfahrtspflege sei erforderlich. Gespräche mit Arbeitgebern sollten Verständnis für die Situation der Jugendlichen wecken. Wünschenswert wäre eine Schaffung von Verbindungen zu Jugendgruppen, Vereinen u.s.w. Doch diese Vorschläge waren wohl eher Wunschvorstellungen der involvierten Mitarbeiter als später konkret umgesetzte Maßnahmen. Allerdings zeigten sich die politisch Verantwortlichen in dieser Frage optimistisch.

„1958 wurde in einer vom Bundesminister für Gesamtdeutsche Fragen angeregten Untersuchung der Eingliederungserfolg festgestellt: Zwei Drittel der Jugendlichen sei vollständig integriert.“